Das Coming Out als geistliche Krise

In diesem Artikel vergleiche ich das «Coming out» von Jesus als Messias mit meinem Coming out als schwuler Mann. Für Theologen vielleicht ein gewagter Vergleich, für manche vielleicht anmassend. Mich haben diese Gedanken wieder ein Stück näher zu dem gebracht, der meinem Leben Sinn und Inhalt gibt: Jesus Christus.

Inspiriert zu diesen Zeilen wurde ich durch Rich Clark. Von ihm fand ich zufällig einen Artikel zu diesem Thema im Internet. Vielen Dank an Rich, unbekannterweise!

Coming-out ist der Prozess zum Bekenntnis zur eigenen Homosexualität. Er ist unabhängig von Alter und sieht bei jedem/jeder Betroffenen anders aus.

Denke ich an den Einzug von Jesus nach Jerusalem, dann erscheint mir dieses triumphale Geschehen als eine Art «Coming out» von Jesus als Messias. Hatte er vorher seine Identität als verheissener Messias noch zurückgehalten und verheimlicht (jedoch nie verleugnet), so verkündet er jetzt ganz offen und freiherzig die Tatsache, dass er dieser Messias ist. Die Parallelen zwischen seinem «Coming out» und dem von Schwulen und Lesben sind beeindruckend, denn beide «Coming out – Prozesse» haben mit der Akzeptanz einer Lebenswirklichkeit, der Verweigerung von Rollenerwartungen und einem krisenhaften Prozess zu tun.

Jesus verschwieg vor seinem Einzug nach Jerusalem, bei dem er sich als der Messias feiern liess, die Tatsache, dass er der Messias ist. Einige Theologen sprechen deshalb vom «messianischen Geheimnis» Jesu.

Er gebot den Dämonen zu schweigen, als sie seine Identität herausschrieen und er befahl den Menschen, die er heilte, es nicht weiterzuerzählen. Warum hielt sich Jesus so zurück, als der Messias erkannt und bekannt zu werden? Wahrscheinlich, weil er sich all der falschen Vorstellungen und vorgefassten Meinungen bewusst war, die man damals unter den Juden über den Auftrag und die Identität des Messias hatte. Jesus wusste, dass sein Dienst massiv gestört worden wäre durch diese Fehlannahmen. Er wollte, dass die Menschen ihn wahrnehmen, ohne ihn daran zu messen, wie der Messias ihres Erachtens sein sollte.

Es kann gut sein, dass – wenigsten zum Teil – die religiös û politische Krise, die in der Heiligen Woche vor dem Passahfest in Jerusalem entstand, ihre Ursache darin hatte, dass Jesus sich offen als Messias zeigte und die Menschen erwarteten, dass er eine Armee aufstellen würde, die verhasste Besatzungsmacht der Römer aus dem Lande trieb, das Königreich Israel wieder aufbaute und es wie zu Zeiten Davids zum Blühen bringen würde. Jesus erfüllte diese Erwartungen nicht und schnell wurde aus dem gefeierten Helden ein Aufrührer, der den Tod am Kreuz verdiente. Die Menge wandte sich gegen ihn, als er deren Erwartungen nicht mehr erfüllte.

Wie die meisten homosexuellen Menschen möchte ich von anderen akzeptiert werden als die Person, die ich bin, und nicht nur als schwuler Mann. Meine Sexualität ist nicht die Definition meiner Persönlichkeit, obwohl sie ein bedeutender Teil meiner Identität ist. Ich widersetze mich den Missverständnissen, die heterosexuelle Menschen oft von einem schwulen Mann haben: er sei feminin, schwuchtelig, promisk, übersexualisiert und würde Kinder belästigen.

Ich wehre mich dagegen, über solche Stereotypen definiert zu werden. Sobald ich mich jedoch als schwuler Mann zu erkennen gebe, laufen bei vielen anderen diese Bilder ab und geben ihnen den Rahmen, durch den sie mich wahrnehmen. Um nicht mit diesen Vor-Urteilen in einen Topf geschmissen zu werden, entschliesst sich so mancher, eben nicht den Schritt zu wagen, nach aussen hin zu seiner sexuellen Orientierung zu stehen.

So wie das Coming out von Jesus als Messias in Jerusalem zu einer Krise in der Stadt führte, so wird das Coming out aus unserer Selbstverleugnung auch unweigerlich in eine Krise führen. Bei manchen im familiären Bereich, bei anderen wird es zu Mobbing am Arbeitsplatz führen und bei vielen zu einem Ausschluss aus ihren christlichen Kreisen, da sie sich durch diesenn Schritt zu sich selbst in deren Augen in ihrem Christsein disqualifizieren. Doch genau diese Krise beinhaltet auch eine grosse Chance für uns. Sie kann dazu führen, dass uns bewusst wird, wie sehr wir von äusseren Meinungen abhängig sind und wie wenig unser Herz an Gott hängt. Sich selbst akzeptieren und zu dem Punkt kommen, dass Gott mich deshalb nicht verurteilt oder ablehnt, stärkt in der Tiefe meine Beziehung zu ihm. Diese Krise erfordert von mir, dass ich lerne die Stimme Gottes von der meiner christlichen Umwelt zu unterscheiden und kann vielleicht zu der erschreckenden Feststellung führen, dass für mich unter dem Mantel des «Glaubensgehorsams» beides identisch war. Diese Krise ermöglicht mir auch, meine Motivation zu glauben, meinen Frömmigkeitsstil und die Art und Weise, wie ich die Bibel gelesen habe, zu hinterfragen. Sie fordert mich auf, selbst zu denken und auch einmal andere Auslegungen zuzulassen, ohne dass ich Angst haben muss, ich würde mich dabei «dämonisch infizieren». Deshalb ist für mich der Prozess des Coming out unweigerlich verbunden mit einem neuen Sich öffnen für den Heiligen Geist, der mir direkt vermitteln wird, was Gott mir und meinem Leben zu sagen hat.

Jesus wurde mit dem Zorn seiner Feinde konfrontiert als er in Jerusalem sein «Coming out» hatte. Er wusste, dass der Weg, der vor ihm lag, äusserst schwierig war. Aber er wusste auch, dass dieser Weg von Gott gewählt war und dass es keine Alternative für ihn gab. Vielleicht erleben wir ähnliche Krisen, wenn wir uns zum Coming out entscheiden. Wenn wir in eine solche Krise kommen, dann können wir mehr tun, als sie nur zu überleben, als nur am Ende als Opfer dazustehen. Wir können sie als Chance für unseren Wachstum und für neue Erfahrungen mit Gott ergreifen. Wir können in einer noch nicht da gewesenen Weise erleben, was es heisst, von Ihm ohne Wenn und Aber geliebt zu werden.

Günter Baum 2003