Das Ende des Schweigens

Homosexualität und die Ignoranz der Kirchenleitung

Aus dem «Aufbruch» Nr. 93 2/2000

Es gibt weit mehr schwule Seelsorger, als die Bischöfe wahrhaben wollen. Doch das Problem wird konsequent ausgeblendet. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, ignoriert die Kirchenleitung die aktuellen Erkenntnisse der Humanwissenschaften – und grenzt damit die eigenen Mitarbeiter aus.

Von Benno Bühlmann

Noch selten hat ein Artikel im amtlichen Organ der Schweizer Bischöfe die Gemüter – innerhalb wie ausserhalb der Kirche – derart bewegt, wie dies unlängst geschehen ist: In der Schweizerischen Kirchenzeitung (SKZ) vom 27. Januar hatte der Theologe Gianfranco Christen, Präsident des Vereins «Adamim» für schwule Seelsorger in der Schweiz, das Schweigen gebrochen. In seinem Bericht über «Kirche und schwule Seelsorger» wies er auf eine Problematik hin, die von den Schweizer Bischöfen bisher kaum wahr- und ernst genommen wurde.

Als Einzelfälle abgespiesen

Namentlich Bischof Kurt Koch brachte noch wenige Wochen vor der Publikation des besagten Artikels kaum Verständnis für diese Angelegenheit auf: In einer Stellungnahme anlässlich der jährlich stattfindenden Tagung der Theologiestudierenden des Bistums Basel lehnte es Koch ab, von einer grundsätzlichen Problematik zu sprechen. Abgesehen von wenigen Einzelfälle sei er sich keinerlei Probleme bewusst. Zudem grenze die Behauptung, die angesprochenen Konflikte beträfen nicht wenige kirchliche Mitarbeitende, an «Rufmord an einer ganzen Berufsgattung», meinte damals der Basler Bischof.

Gianfranco Christen indessen sieht die Situation ganz anders: Als Präsident des Vereins für schwule Seelsorger in der Schweiz, der im Gespräch mit vielen direkt Betroffenen steht, lässt er sich von den Bischöfen nicht mehr mit dem Hinweis auf die berühmt-berüchtigten «Einzelfälle» abspeisen. Eigene Erfahrungswerte seiner Studienzeit sowie Zahlen aus empirischen Untersuchungen des Theologen und Psychotherapeuten Wunibald Müller lassen ihn darauf schliessen, dass nicht weniger als 20 bis 25 Prozent aller Priester schwul sind. Deshalb forderte er die Schweizer Bischöfe auf, zur Frage der Homosexualität endlich in ein ehrliches und ernsthaftes Gespräch mit den Betroffenen einzutreten.

Doch diese Forderung blieb bislang ein frommer Wunsch: Bis zum Redaktionsschluss dieser aufbruch-Nummer und vier Wochen nach der Publikation seines Artikels in der Schweizer Kirchenzeitung waren bei Gianfranco Christen keinerlei Reaktionen von offizieller Seite eingegangen, obwohl hinter den Kulissen der Kirchenleitung seither eifrig und kontrovers über seinen Beitrag diskutiert wird.

Einmal mehr wird die Verantwortung in dieser Angelegenheit derzeit von einer Instanz auf die andere abgeschoben: Nicolas Betticher, Sprecher der Schweizer Bischofskonferenz (SBK), meint etwa auf Anfrage, dass hier der Ortsbischof zuständig sei, während Brigitte Muth-Oelschner von der Informationsstelle des Bistums Basel wenig später am Telefon antwortet, dass das Problem nur auf gesamtschweizerischer Ebene angegangen werden könne. Zwar versichern beide Seiten, dass «über die Sache gesprochen werden muss» und die Angelegenheit «keineswegs ad acta gelegt» worden sei, doch über konkrete Schritte hin zu einem Gespräch mit den Betroffenen ist nichts zu erfahren.

Erkenntnisstand von 1920

Widersprüchliche Aussagen bekommt man dann wiederum zu hören, wenn es darum geht, die restriktive Haltung der Kirche gegenüber der gelebten Homosexualität zu begründen. «Homosexualität entspricht nicht dem göttlichen und dem natürlichen Recht», meint Nicolas Betticher und verweist auf die heute gültigen Aussagen des kirchlichen Lehramtes. Gleichzeitig stimmt er zu, dass sich die Kirche mit den Forschungsergebnissen der Humanwissenschaften auseinandersetzen und im einzelnen Fall der betroffenen Seelsorger «eine der Situation angemessene Lösung» suchen müsse.

Tatsache ist allerdings, dass sich die Kirchenleitung heute in der Verteidigung ihrer Praxis im Umgang mit Homosexualität nach wie vor einer Argumentation bedient, die in etwa dem «Wissensstand von 1920» entspricht, wie Udo Rauchfleisch, Professor für klinische Psychologie in Basel festgestellt hat (vgl. aufbruch Nr. 90, Oktober 99).

Diese Einschätzung teilt auch Kurt Wiesendanger, Aarau, der als Psychologe FSP eine Dissertation über Homosexualität und Psychotherapie geschrieben hat. «Aus heutiger wissenschaftlicher Sicht ist es unhaltbar, Homosexualität als widernatürlich einzustufen. Es ist ganz klar, dass Homosexualität eine der Heterosexualität ebenbürtige und gleichwertige Variante von sexueller Orientierung darstellt, die mit Krankheit oder mit einer psychischen Störung überhaupt nichts zu tun hat.» Das seien Erkenntnisse, die in den letzten zehn bis zwanzig Jahren durch zahlreiche empirische Studien in der Medizin, in der Biologie und der Psychologie eindeutig belegt worden seien, betont Wiesendanger: «Es gibt mehrere Studien, die aufzeigen, dass psychische Störungen bei schwulen oder lesbischen Menschen nicht häufiger festzustellen sind als bei anderen Menschen.» Deshalb gebe es heute keine Anhaltspunkte, die eine Pathologisierung der Homosexualität rechtfertigen würden.

Menschenverachtend

Es sei davon auszugehen, dass bei durchschnittlich fünf bis zehn Prozent der Menschen eine homosexuelle Orientierung vorliege. Dass die entsprechende Zahl bei kirchlichen Seelsorgern noch weit höher liegt, ist für Wiesendanger zwar nicht beweisbar, aber evident: Viele der betroffenen Menschen haben die Moralvorstellungen der Kirche, so Wiesendanger, internalisiert und wählen einen kirchlichen Beruf, um ihre Homosexualität im Glauben zu sublimieren. Allerdings könne die Unmöglichkeit, eine homosexuelle Veranlagung auch leben zu können, zu erheblichen psychischen Störungen führen, betont der promovierte Psychologe mit Hinweis auf Erfahrungen aus seiner eigenen psychotherapeutischen Praxis: «Menschen, die ihre homosexuelle Veranlagung verdrängen, leiden oft unter massiven Depressionen, Angststörungen oder auch unter psychosomatischen Beschwerden.» Vor diesem Hintergrund ist für Wiesendanger klar: «Die Haltung der Kirche gegenüber homosexuell veranlagten Menschen ist in höchstem Masse menschenverachtend.»

Weitere Informationen bei: Adamim, Verein Schwule Seelsorger Schweiz, Postfach 8044, 3001 Bern. www.adamim.ch

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