Die Wahrheit unterm Feigenblatt

Die Diskussion über den Umgang mit Homosexuellen hat längst auch den Vatikan erreicht. In Priesterseminaren und Klöstern wird offen über Schwule in der katholischen Kirche gesprochen. Ein Tabu beginnt zu fallen.

Von ANDREAS ENGLISCH

Eine Sensation ereignet sich dieses Frühjahr im Vatikan. Der Kirchenstaat unternahm nichts, um sie zu verbergen: Marco Politi (51), einer der handverlesenen Journalisten, die die Ehre haben, den Papst in seinem Flugzeug begleiten zu dürfen, ihn mit dem Segen des Kirchenstaates interviewen und regelmäßig sprechen zu können, dieser Politi brachte ein Buch über die sexuellen Exzesse homosexueller katholischer Priester heraus. Das Buch erzählt hemmungslos sexuelle Eskapaden. In der Branche setzte niemand mehr einen Pfifferling auf die Karriere Politis. Doch das Unfassbare geschah: Der Vatikan bedankte sich für Politis Arbeit, der als Erster über ein Netzwerk von Selbsthilfegruppen homosexueller Priester berichtete.

Die katholische Kirche nähert sich auf der ganzen Welt langsam und vorsichtig einem Tabu-Thema: Homosexualität. Der Kirchenstaat wird gezwungen, nicht mehr wegzuschauen, immer mehr Priester an der Basis in den fünf Kontinenten wollen offen über Homosexualität reden, die Zeiten, als der Vatikan so tun konnte, als gäbe es das Thema nicht, sind vorbei.

Auslöser waren die Kurienkardinäle selbst: Durch eine beispiellose diplomatische Stümperei machten sie Homosexualität innerkirchlich zum meist diskutierten Thema: Angefangen hatte alles mit einem Debakel der vatikanischen Diplomatie, der ältesten und erfahrensten der Welt, die eine Homosexuellen-Parade in Rom verbieten wollte.

Geplant war im Juli des Jahres 2000 lediglich eine bunte Schwulen-Parade, der Vatikan bekam im Heiligen Jahr eine grandiose Gelegenheit geschenkt, Toleranz zu zeigen. Doch dann meinte die Kirche sich in die Angelegenheiten des italienischen Staates einmischen zu müssen und verlangte eine Verlegung des Spektakels nach Florenz. Was schlimm genug war. Zu Recht erklärten der Ministerpräsident und der römische Bürgermeister gemeinsam, dass Italien ein von der Kirche unabhängiger Staat sei, der sich vorbehalte, Demonstrationen zu genehmigen oder nicht.

Schließlich ließ sich der Kirchenstaat zu einer Kampagne gegen Homosexuelle verleiten, was noch schlimmer war. Ausgerechnet der Vatikan geriet in den Ruf, Minderheiten zu diskriminieren. Der Protest des Vatikans verwandelte die Schwulen-Parade in eine Anti-Kirchen-Demonstration. Der souveräne Staat Italien und die Schwulen zeigten gemeinsam, dass sie sich vom Vatikan nicht einschüchtern ließen.

Das kirchliche Verhalten hatte Folgen: «Zum ersten Mal wurde in den Priesterseminaren und Klöstern ganz offen über die Gay Pride und Homosexualität gesprochen. Schwul zu sein, war auf einmal ein Thema», erinnert sich Don Carlo Bettazzi, ein Seminarleiter in Rom.

Als wenn ein Ventil geöffnet worden wäre, sah sich der Papst innerhalb weniger Wochen mit einer Flut von Bekenntnissen von Priestern, Anklagen und schockierenden Nachrichten konfrontiert. Der Vatikan erkannte viel zu spät, dass er den gleichen gewaltigen Fehler gemacht hatte, den alle vermeiden sollten, die im Glashaus sitzen: Das Thema kippte. Es ging plötzlich nicht mehr um die Auseinandersetzung der Kirche mit Homosexualität in der Gesellschaft, sondern um Homosexualität innerhalb der Kirche.

Im November des Jahres 2000 wagte es dann Don Antonio Mazzi über HIV-positive und homosexuelle Priester zu sprechen. Der Vatikan riskierte nicht, ihm einen Maulkorb zu verpassen. Dann erschien die wahre Geschichte eines homosexuellen Pfarrers, aufgezeichnet von Marco Politi. Das Buch wurde ein großer Erfolg und zähneknirschend musste der Vatikan die Arbeit loben. Auch die Tageszeitung «Avvenire», die der italienischen Bischofskonferenz gehört und unter dem direkten Einfluss des Vatikans steht, pries die menschliche Einfühlsamkeit der Geschichte, die bald auch in Deutschland erscheinen soll.

Dass der Vatikan nicht protestierte, schien umso überraschender, als sogar ein Bischof, Don Luigi Bettazzi aus Ivrea (Norditalien), das Vorwort zu diesem Buch schrieb. Immer mehr Einzelheiten kamen zu Tage, vor allem schockierte die Kurie, dass Beweise für eine geheime Organisation schwuler katholischer Priester auftauchten. Die Priester in Seelennot treffen sich regelmäßig, helfen sich gegenseitig, besorgen sich neue Posten. Wer von einem besonders konservativen Bischof verdächtigt wird, kann Hilfe bekommen und dank der geheimen Organisation einen anderen Posten in einer anderen Gemeinde finden.

Die katholische Kirche ist nach Aussagen der geheimen Organisationen homosexueller Priester eine der größten schwulen transnationalen Organisationen der Welt.

An der Basis der katholischen Kirche schien Homosexualität akzeptiert zu werden, dem Vatikan wurde langsam klar, dass im Stillen eine Revolution im Gange war. Die katholische Kirche ist nach Aussagen der geheimen Organisationen homosexueller Priester eine der größten schwulen transnationalen Organisationen der Welt. Offiziell existieren keine Zahlen, aber nach Schätzungen liegt der Anteil von Homosexuellen unter Priestern in Industrienationen bei nahezu 50 Prozent, aber nur ein geringer Teil lebt das aus. In einer normalen Gesellschaft liegt der Anteil bei etwa zehn Prozent. In Entwicklungsländern ist der Anteil mutmaßlich homosexueller Priestern weit geringer.

Allein zur Kenntnis zu nehmen, dass es homosexuelle Priester gibt, war im Kirchenstaat lange Jahre Grund genug, um aus dem Amt verstoßen zu werden. Denn auf der theologischen Ebene scheint grundsätzlich alles klar. Das Verbot, Homosexualität zu praktizieren, steht eindeutig im Neuen Testament.

Andere Gebote, etwa der Zölibat, lassen sich nicht direkt aus dem Evangelium ableiten. «Was die Ehelosigkeit angeht, so habe ich keine Weisung vom Herrn», schreibt Paulus im Brief an die Korinther (7, 25). Eher aus praktischen als aus theologischen Gründen besteht die Kirche trotzdem auf dem Zölibat.

Sex hatten Priester und Bischöfe mit Frauen über alle Jahrhunderte. Nicht erst Papst Alexander VI. (Amtszeit 1492 bis 1503) liebte seine sechs Kinder und genoss seine Geliebte Giulia Farnese. Das Problem wird schon viel früher behandelt, schon im «Paenitentiale Columbani», dem römisch-germanischen Pontifikal-Buch aus dem 10. Jahrhundert, werden genau die Strafen beschrieben: «Wenn ein Kleriker mit einer Frau Unzucht treibt, ohne dass sie schwanger wird, muss er drei Jahre bei Wasser und Brot fasten, ein Mönch muss fünf Jahre, ein Bischof zwölf Jahre fasten.» Das klingt schlimmer als es war, weil eine Umwandlung der Strafe möglich war. In dem Buch heißt es: «Ein Jahr Fasten lässt sich auch abgleichen, indem der Sünder drei Tage an der Grabstätte eines Heiligen zubringt, ohne zu essen und ohne zu trinken und ohne seine Kleider abzulegen. Während der Zeit muss er Psalme singen.»

Während die katholische Kirche sich mit der Tatsache, dass Priester unkeusch werden konnten, arrangierte, lag der Fall bei Homosexualität immer ganz anders, weil es als «schwere moralische Verirrung» galt. Homosexualität zu praktizieren war aus der Sicht der katholischen Kirche eindeutig immer eine schwere Sünde.

Grund dafür ist vor allem der Römerbrief aus der Feder des Apostels Paulus. Paulus schrieb warnend über Menschen, die Gott hassen und die der Herr im Himmel deswegen «ihren Begierden ausliefert». Paulus schrieb (Römer 1, 27): «Ebenso gaben die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander, Männer trieben mit Männern Unzucht und erhielten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verwirrung.»

Die Ächtung von Homosexualität hatte zunächst einen ganz simplen Grund: Paulus wollte, dass sich die christlichen Gemeinschaften von den Heiden deutlich absetzen. So unterstreicht er ausdrücklich, dass die unter Römern und Griechen geduldete Knabenliebe ein schweres Verbrechen sei.

Fortschrittliche katholische Theologen sind bereit einzuräumen, dass die Ächtung der Homosexualität zur Gruppe der Gebote der Reinheit gehört. Alle Religionen kennen die Ächtung von bestimmten «unreinen» Speisen, Tieren oder Verhaltensweisen.

Priester, die mit Unreinem in Berührung gekommen sind, müssen sich in vielen Religionen Strafen unterziehen, noch heute suspendieren Bischöfe bekannte homosexuelle katholische Priester «a divinis» von ihrem Dienst.

Selbst nach dem Tod kann Homosexualität dem Ansehen von Priestern in der Kirche schaden, das Seligsprechungsverfahren des belgischen Paters Don Leon konnte erst 1997 nach 30 Jahren beendet werden, weil es den Verdacht gab, der Pater sei homosexuell gewesen, das gleiche Los traf den französischen Ordensstifter Charles de Foucauld.

Sehr langsam und sehr vorsichtig beginnt nun ein innerkirchlicher Dialog. Der Vatikan hat erkannt, dass eine Trennung der Begriffe Pädophilie (Unzucht mit Kindern) und Homosexualität nötig ist, sonst droht der Weltkirche katastrophaler Schaden. Bisher gab es innerhalb der Kirche nur unwesentliche graduelle Unterschiede in der Verurteilung des Missbrauchs von Kindern und der Homosexualität, beides galt als schmutzig und verwerflich. Jetzt muss sich die Kirche, ob sie will oder nicht, genauer mit Pädophilie auseinandersetzen. In den USA und Kanada droht manchen Diözesen der Ruin wegen einer Flut von Millionen-Dollar-Klagen gegen katholische Priester, die sich an Kindern vergangen haben sollen.

Papst Johannes Paul II. sorgte für ein sehr hartes innerkirchliches Durchgreifen, sollte der Verdacht bestehen, dass Priester versuchen, Kinder zu verführen. Gleichzeitig wurde Homosexualität teilweise von der alten Ächtung befreit. Homosexualität an sich gilt nicht mehr als verächtlich, der Vatikan präzisierte, dass keusch lebende Homosexuelle einem Heterosexuellen in nichts nachstehen.

Hartnäckig klagen jetzt immer mehr homosexuelle katholische Christen und einige Priester ihr Recht auf Anerkennung ihrer menschlichen Würde ein. Immer mehr Bischöfe sind zu einem Dialog mit homosexuellen Priestern bereit.

Die vorsichtige Kehrtwendung hängt entscheidend mit dem Fall Groer zusammen. Selbst extrem konservativen Kardinälen wird immer klarer, dass die bisherige Strategie, alles zu vertuschen, zu verleugnen und zu verschweigen, was mit Homosexualität innerhalb der Kirche zu tun hat, geändert werden muss. Das Schicksal des Wiener Kardinals Hans Hermann Groer wurde innerkirchlich zur Wasserscheide, weil er dem Vatikan zeigte, dass die Basis nicht mehr alles hinnimmt.

Als im Jahr 1995 die Anklagen gegen Kardinal Groer, ein Kinderschänder zu sein, bekannt wurden, hielt der Vatikan an ihm fest, trotz der vorhandenen Beweise. Die Basis der österreichischen Kirche revoltierte, der Vatikan überging das schlicht. Während junge Priester wegen weit geringerer Vergehen aus dem Dienst gejagt wurden, schien der Kardinals-Hut Groer reinzuwaschen. Er wurde in Rom in ein neues Amt eingewiesen, auch als seine Schuld feststand und er sich zu einer halben Entschuldigung durchrang.

Doch was jahrhundertelang gut gegangen war, die Ignorierung des Gerechtigkeitsempfindens der katholischen Basis, rächte sich bitter. Österreich lieferte dem statistischen Amt der katholischen Kirche zwischen 1995 und 2000 absolute Rekorde an Kirchenaustritten. Im Jahr 1999 verließen 44 000 Österreicher die Kirche. Alle Gegenmaßnahmen schlugen fehl. Im Sommer 1998 wollte der Papst bei seinem Besuch in Österreich wieder für die Kirche werben. Johannes Paul II. träumte davon, an den triumphalen Besuch des Jahres 1983 anzuknüpfen, als ihm auf den Donauwiesen 350 000 Menschen zujubelten, diesmal, 15 Jahre später, kam weniger als ein Zehntel, knapp 30 000 Gläubige. Das hat er nie vergessen.   (SAD)

Hamburger Abendblatt, 10. April 2001