Ein Dokument der Angst

EinSpruch!

Viele Jahre brauchte ich
um meine Homosexualität anzunehmen
zu lange war ich ausser mir
liess mich beeindrucken
von lebensverneinenden Glaubensaussagen

Viele Jahre war meine Seele tief zerstört
weil ich nicht auf meine Herzensstimme horchte
zu lange war ich auf der Flucht vor mir selber
liess mich beirren von der Zusage
eine Fehlform der Schöpfung zu sein

Seit vielen Jahren bete ich täglich mit den Psalmen
wie konnte ich Deine Lebensworte überhören
die mich zum aufrechten Gang
ermutigten:«Ich danke dir, dass du
mich so wunderbar gestaltet hast».

Du hast alle schwulen und
lesbischen Menschen
so wunderbar gestaltet und geschaffen
Du bestärkst sie zur Selbstannahme
Du bewegst sie zu zärtlicher Freundschaft
Du segnest sie kraftvoll jeden Tag neu

Dieser Psalm, geschrieben nach meinem Coming-out im Juli 2003, zeigt, wie gross die seelischen Nöte homosexueller Menschen sein können. Das neue Dokument aus dem Vatikan – «Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Menschen» – verstärkt diese Not. Es empört mich zutiefst, denn es ist ein Dokument der Angst. Erschreckend sind der verletzende, lieblose Ton, die zunehmende Einengung der Sexualität auf die Fortpflanzung und die fragwürdige Berufung auf ein «natürliches Sittengesetz». Was soll unnatürlich sein, wenn zwei Frauen oder Männer in Liebe und Verantwortung einen gemeinsamen Weg gehen? Sie verwirklichen christliche Werte wie die Ermutigung zur Selbstannahme und zur Liebesfähigkeit. Ich kämpfe weiterhin für eine offene, zärtliche, tolerante römisch-katholische Kirche.

PierreStutz

Katholischer Theologe und Autor spiritueller Bücher: www.pierrestutz.ch

Saemann 9/2003 heute reformiert.