Kann denn Liebe Sünde sein?

Gleichgeschlechtliche Liebe, das biblische Menschenbild und die Weitergabe desLogo Linet-c Lebens

von Klara Butting

Die biblischen Aussagen zur Homosexualität Die Bibel wird in der kirchlichen Diskussion um Lebensformen häufig in eine sehr unrühmliche Rolle hineingezwungen. Lesben und Schwule werden vor das Gericht des Schriftbeweises gezerrt. Bei der Urteilsfindung spielt ein Text aus dem Römerbrief eine wichtige Rolle. Paulus redet von Menschen, die sich von Gott abgekehrt haben, die „das Geschöpf verehrt und ihm gedient haben statt dem Schöpfer“ und die Gott in Konsequenz ihres Tuns „in Unreinheit dahingegeben“ hat (Röm 1,24f).

Diese Unreinheit kommt nach Meinung des Paulus in der gleichgeschlechtlichen Sexualität beispielhaft zum Ausdruck. Paulus schreibt: Gott hat sie „dahingegeben in schändliche Leidenschaften; denn ihre Frauen haben den natürlichen Verkehr vertauscht mit dem widernatürlichen. Desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen und sind in Begierde zueinander entbrannt und haben Mann mit Mann Schande getrieben und den Lohn ihrer Verirrung, wie es ja sein musste, an sich selbst empfangen“ (Röm 1,26.27).

Paulus greift auf das Koordinatensystem rein/unrein zurück, dessen positive Absicht die Heiligung des Lebens ist, an die durch Beschränkungen erinnert werden soll. Darum sollen Eindeutigkeiten nicht zerstört, Sphären nicht vermischt, Ordnungen nicht durch einander gebracht werden, wie es beispielhaft aus Levitikus 19,19 hervorgeht: „Du sollst nicht zweierlei Vieh sich begatten lassen und ein Feld nicht mit zweierlei Samen besäen, und es soll kein Kleidungsstück auf deinen Leib kommen, das aus zweierlei Fäden (aus Baumwolle und Polyester z.B.) gewoben ist“. Auch das an Männer gerichtet Verbot in Lev 18,22 „bei einem Mann zu liegen wie bei einer Frau“ will solche Vermischung abwehren, männliches und weibliches Verhalten soll unterschieden werden. Wie das Tragen der Kleidung des jeweils anderen Geschlechts (Dtn 22,5) wird auch die anale Penetration eines Mannes als Gräuel bezeichnet, weil ein Mann dabei in die Position einer Frau gebracht wird.

Auch Paulus will solche Vermischungen abwehren und hat dabei eine Vorstellung von Sexualität im Kopf, die heute – auch in Hinblick auf heterosexuelle Beziehungen – völlig unakzeptabel ist.
Paulus geht – ganz geprägt von zeitgenössischen Kontext, in dem Sexualität als Herrschaftsverhältnis gedacht wird – davon aus, dass es im Geschlechterverhältnis eine klare Hierarchie gibt, die mit klaren Rollenmustern einhergeht. Der Mann ist das Haupt der Frau (1 Kor 11,3). Die Sexualität ist in diesem Verhältnis geprägt von einem bestimmten Ideal von Oben und Unten, von Herrschaft und Unterordnung, von Aktivität und Passivität. Das Unten, die Unterordnung und Passivität stand Frauen zu. Für freie Männer war die passive Rolle verpönt. Diese hierarchische Ordnung ist nach Meinung des Paulus „natürlich“, wobei mit Natur die gesellschaftlichen Konventionen gemeint sind. So kann er argumentieren: „Und lehrt euch nicht die Natur selbst, dass es, wenn ein Mann lange Locken trägt, verachtenswert für ihn ist – für eine Frau aber Herrlichkeit ist, wenn sie lange Locken trägt?“ (1 Kor 11,14f). Ein widernatürlicher Rollentausch findet statt, wenn Männer sich lange Haare wachsen lassen. Sie übernehmen die Frauenrolle und verhalten sich feminin. Ebenso verhalten sich Frauen, die ihre Haare kurz schneiden lassen, widernatürlich, weil sie eine Verhaltensweise von Männern übernehmen. Im Kontext dieser von ihm verteidigten hierarchischen Geschlechterordnung sieht Paulus in der Homosexualität eine grundsätzliche Verwirrung und Verwischung der Kategorien weiblich und männlich. Frauen und Männern wird vorgeworfen, dass sie durch ihre sexuellen Beziehungen zu dem eigenen Geschlecht versuchen, die Grenzen der ihnen von Natur aus zugeteilten weiblichen passiven bzw. männlichen aktiven Rolle zu überspringen. Ihr Aufbegehren gegen diese hierarchische Ordnung wird von Paulus unter dem Stichwort Unreinheit subsumiert. Dasselbe Ordnungssystem hat er in Hinblick auf Nahrungsmittel und Speisegebote um der Versöhnung von Juden und Jüdinnen und der Menschen aus Völkern willen aufgegeben. Doch in Hinblick auf die Geschlechterrollen hält er das Wertsystem rein/unrein rigoros aufrecht. Das Männliche muss männlich, herrschaftlich, übergeordnet bleiben, das Weibliche muss weiblich, passiv, untergeordnet bleiben.

Seine Argumentation ist einer Vorstellung von Sexualität verhaftet, die heute unakzeptabel ist. Wir haben gelernt, dass Geschlechterrollen sowohl im intimen, als auch im öffentlichen Bereich des Lebens veränderbar sind und auch egalitär gestaltet werden können. Auch vor dem von Paulus verkündigten Evangelium hält die Festschreibung hierarchischer Geschlechterrollen nicht stand. Paulus ist davon überzeugt, dass Christus „alle Herrschaft und alle Macht und Gewalt zunichtemachen wird“ (1 Kor 15,24) und mit diesem Umsturz in seiner Gemeinde begonnen hat (1 Kor 1,26ff).

Zum Verstehenshorizont der biblischen Texte

Wenn in der Debatte um Lebensformen einzelne Bibelstellen zur Urteilbildung herangezogen werden, ist die Problematik dieses Verfahrens in der Regel allen Beteiligten klar. In der Orientierungshilfe der EKD zum Thema „Homosexualität und Kirche“ wird das Kapitel „Die biblische Aussagen zu Sexualität und Homosexualität“ eingeleitet mit hermeneutischen Überlegungen. Luthers hermeneutischer Grundsatz, dass die biblischen Texte an Jesus Christus als der „Mitte der Schrift“ zu prüfen seien, wird wiederholt. „Dieser Grundsatz geht davon aus, dass es in der Bibel mehr oder weniger zentrale Aussagen gibt, und er rechnet sogar mit der Möglichkeit, dass biblische Texte (von der „Mitte der Schrift“ aus) zu „tadeln“ sein könnten, weil sie nicht christusgemäss sind“ (S. 14). Rein phänomenologisch gehören die Verse zu Homosexualität nicht zu den zentralen Aussagen der Bibel. „Im biblischen Gesamtzeugnis ist Homosexualität ein Nebenthema“, konstatiert die Orientierungshilfe. Und: „In der uns überlieferten Verkündigung Jesu spielt das Thema ‚Homosexualität’ keine Rolle“ (S. 17). Trotzdem werden schliesslich die wenigen biblischen Verse zusammengefasst in der Behauptung, dass „homosexuelle Praxis dem Willen Gottes widerspricht“ (S. 20).

Der Grund, warum die Aussagen zu Homosexualität trotz der marginalen Textbasis anders behandelt werden als die Speisegebote oder das Verbot Baumwollen und Polyester zu mischen, liegt an ihrer vermeintlichen „Übereinstimmung mit den allgemeinen biblischen Aussagen zum Menschenbild und zur Sexualität“ (S. 21). Die Annahme, der Mensch sei nach Gottes Willen auf Ehe und Familie hin geschaffen, wird gegen lesbische und schwule Liebe ins Feld geführt. Ein als biblisch postuliertes Menschenbild bildet den Verstehenshorizont, innerhalb dessen die vereinzelten Verse zu Homosexualität zu zentralen Aussagen der Bibel werden.

Wenn über die Rolle der Bibel in der Diskussion um Lebensformen nachgedacht wird, reicht es deshalb nicht aus, die biblischen Texte zu Homosexualität zu analysieren, und zum x-ten Mal die historische Bedingtheit dieser Aussagen darzulegen. Denn während die einen die historische Bedingtheit der einzelnen Textpassagen nachweisen, wird von anderen die damit gegebene Relativierung aufgrund ihrer vermeidlichen Übereinstimmung mit dem biblischen Menschenbild grundsätzlich bestritten. Deshalb muss die Frage nach dem biblischen Menschenbild beantwortet werden: Sind wir Menschen nach dem Zeugnis der Bibel tatsächlich auf Ehe und Familie hingeschaffen?

Das biblische Menschenbild

Die Behauptung, „dass das biblische Menschenbild auf Ehe und Familie hingeordnet ist“, wird in der Orientierungshilfe der EKD (S. 16) mit einem Vers aus den biblischen Schöpfungsgeschichten begründet: „Darum verlässt der Mann seinen Vater und seine Mutter und haftet seiner Frau an, und sie werden zu einem Fleisch“ (Gen 2,24). Dabei wird auf ein Streitgespräch zwischen Jesus und Pharisäern über Ehescheidung hingewiesen, in dem Jesus damit argumentiert, dass die Schöpfung auf die Ehe ziele. „Von Uranfang der Schöpfung her aber hat er (Gott) sie männlich und weiblich gemacht. Deswegen wird der Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und an seiner Frau haften. Und es werden die zwei zu einem Fleisch. Was nun Gott zusammengetan hat, das soll der Mensch nicht scheiden“ (Mk 10,6-9). Ausgangspunkt der Argumentation ist die Schöpfungsaussage, Gott schuf ein in zwei Geschlechter differenziertes Kollektiv mit dem Ziel, eine Einheit zu werden – das Bild des Einen Gottes, ein Fleisch, ein Leib. Jesus argumentiert, dass diese menschliche Bestimmung zur Einheit sich erfüllt, wenn zwischen einem Mann und einer Frau eine Lebensgemeinschaft entsteht. Kein Mensch soll deshalb störend dazwischen treten. Doch die Lebensgemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau ist nicht die einzige Form, in der die Bestimmung menschlicher Geschichte zu versöhnter Einheit sich ereignet. Nur wenn man diese Verse herauslöst aus dem Zeugnis der gesamten Bibel lässt sich aus ihnen ein Menschenbild gewinnen, nach dem Frauen und Männern durch Heterosexualität bzw. in der Ehe ihr Menschsein erfüllen.

Die ganze Bibel ist von der Vision durchzogen, dass verschiedene, auch verfeindete Menschen zu einer Einheit werden. Diese Vision hängt mit dem Bekenntnis zu dem Einen Gott zusammen, von dem Altes und Neues Testament erzählen. Gott vertrauen heisst hören: „Der Herr unser Gott, der Herr ist Einer!“ (Dtn 6,4) und darauf setzen, dass Gott morgen noch derselbe ist wie heute, nicht gespalten in Liebe und Gerechtigkeit, nicht von inneren Widersprüchen zerrissen, sondern Ein Gott, dessen Liebe und Zuwendung zu den Menschen heute und morgen seine Geschichte bestimmen. Gott vertrauen heisst deshalb auch darauf hoffen, dass sich Liebe und Zuwendung in der Geschichte der Menschen durchsetzen, eine Hoffnung, die in der Vision vom Einswerden von verschiedenen Menschen zur Sprache kommt – wobei Einswerden nicht bedeutet, dass Menschen gleich werden, sondern das sie verschieden ohne Herrschaft, versöhnt miteinander leben. Das in zwei Reiche gespaltene und verfeindete Israel wird zu „einem Volk“ werden (Ez, 37, 22; 2Sam 7,23). „Ich gebe ihnen ein Herz und einen Weg, “ verspricht Gott durch seine Propheten (Jer 32,39; Ez 11,19). Diese Versöhnung wird die ganze Völkerwelt und die ganze Schöpfung umfassen und erneuern. „Wolf und Lamm werden weiden wie eins“ (Jes 65,25); und die Völker werden Gott „mit einer Schulter dienen“ (Zeph 3,9). Universale Versöhnung wird geschehen, die der Apostel Paulus in seiner Zeit wahr werden sieht. Er beschreibt die Gemeinden, die in der Nachfolge Jesu entstehen, als den Beginn der geeinten Menschheit: „Wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, seien wir Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie“ (1 Kor 12,13).

Die Gemeinschaft, die Paulus vor Augen hat, bestimmt den ganzen Lebensvollzug der Menschen. Bindungen entstehen, die so umfassend und stark sind, dass Paulus, um von ihnen zu erzählen, auf die Genesisverheissung zurückgreift: „Darum verlässt der Mann seinen Vater und seine Mutter und haftet seiner Frau an, und sie werden zu einem Fleisch“ (Gen 2,24). In einer Polemik gegen Unzucht argumentiert er mit diesem Vers: „Oder wisst ihr nicht, dass wer sich an die Hure haftet, ein Leib ist mit ihr? Es werden ja, heisst es, die zwei zu einem Fleisch“ (1 Kor 6,16). Er ruft mit Hilfe der Genesisstelle die Tragweite ins Gedächtnis, die der Geschlechtsverkehr mit einer Prostituierten für den Betroffenen hat. Der Mann bindet sich an die Frau. Diese Beziehung konfrontiert Paulus in einem nächsten Schritt mit der Beziehung der Christ/innen zu ihrem Herrn Jesus und greift dabei erneut die alten Worte der Genesis auf: „Wer sich aber an den Herrn haftet, ein Geist ist er mit ihm“ (1 Kor 6,17) mit der Konsequenz: „Der Leib ist für den Herrn“ (6,13). Mit Hilfe der Genesisstelle parallelisiert Paulus die Beziehung eines Mannes zur Prostituierten mit der Beziehung der Christ/innen zu Christus. Er stellt zwei Lebensweisen einander gegenüber, die jeweils den ganzen Menschen in Beschlag nehmen, und sich gegenseitig ausschliessen. Dabei geht er davon aus, dass völlig unabhängig von der Geschlechtsgemeinschaft von Mann und Frau sich in der Gemeinschaft mit Jesus die in Genesis 2,24 gegebene Verheissung erfüllt: „die zwei werden zu einem Fleisch“.

Im Brief an die Galater fasst Paulus diese Gemeindeerfahrung zusammen: In Christus – „da gibt es keinen Juden noch Griechen, da gibt es keinen Sklaven noch Freien, da gibt es nicht männlich und weiblich. Denn alle seid ihr eins in Christus Jesus“ (Gal 3,28). In dieser Beschreibung der Gemeinde wird die Schöpfungsaussage „männlich und weiblich schuf er sie“ (Gen 1,27) zitiert, und meistens im Sinne von Ehe und Familie gedeutet wird. Die Einheit, auf die Gott in der Schöpfung aus ist, erfüllt sich nach Paulus allerdings dort, wo Menschen in der Nachfolge Jesus aus Gewaltverhältnissen aussteigen und neue egalitäre Gemeinschaftsformen erproben. Die Verheissung, dass zwei zu einem Fleisch werden, zielt – so Paulus – nicht auf die Ehe und diese Verheissung gilt auch nicht etwa nur der Gemeinschaft von Mann und Frau. Ihre Erfüllung wird erlebt, wo freie Frauen und Männer mit Sklavinnen und Sklaven Brot teilen und Juden und Jüdinnen von Leuten aus den Völkern statt Antisemitismus Achtung und Akzeptanz erfahren. Im Kontext dieser Erfahrungen wird die Verheissung, dass Mann und Frau zu einer Einheit werden können, von Paulus neu interpretiert. „Männlich und weiblich“ sind in der Nachfolge Jesu zu einem Leib geworden! Und diese Erfüllung einer alten Verheissung vollzieht sich nicht durch die Geschlechtsorgane als Fortpflanzungsorgane, sondern in der grenzüberschreitenden Praxis der Nachfolge Jesu. Hier bestimmt die Geschlechterdifferenz nicht die Lebenswege und Lebensplanung, hier ist „nicht männlich und weiblich“. Leben und Solidarität, Liebe und Zärtlichkeit sind aus der Geschlechterpolarität befreit. Eine Gemeinschaft ist entstanden, in der die Bestimmung der Menschen, die geschaffen sind männlich und weiblich zum Bild des Einen Gottes, aufscheint.

Das Bild des in der Bibel erhofften Menschen wird in der Gemeinschaft sichtbar, die Jesus schafft. Das biblische Menschenbild nimmt praktische Gestalt an. Mit diesem Menschenbild lässt sich weder Heterosexualität verordnen, noch Homosexualität ausgrenzen. Wo Herrschaft und Feindschaft überwunden werden, wird sichtbar, was wir als Menschen sein sollen und sein werden. Das kann sich in einer Ehe ereignen; das kann und soll aber auch in anderen Versöhnungsgeschichten, anderen Freundschaften, auch gleichgeschlechtlichen zum Vorschein kommen.

Die Weitergabe des Lebens

Ein anderes Argument – neben dem Menschenbild -, um Ehe und Familie in Gottes Schöpfungsordnung zu verankern und Homosexualität auszugrenzen, ist unsere Verpflichtung zur Weitergabe des Lebens. „In der Offenheit für die Weitergabe des Lebens bekommt die Beziehung von Mann und Frau eine neue Dimension, ja sie erhält dadurch Anteil am Schöpferwirken Gottes“, heisst es in der EKD Orientierungshilfe (S.15). Daraus wird die Konsequenz gezogen, dass „die Fülle dieser für das menschliche Leben wesentlichen Funktionen ist so nur in Ehe und Familie möglich“, behauptet die Orientierungshilfe. „Das zeichnet sie als Leitbilder aus.“ (32f.)

Gleich zu Beginn der biblischen Geschichtsschreibung widerspricht die Bedeutung der Urmutter Eva dieser Festlegung von Lebensweitergabe auf den Vorgang der biologischen Fortpflanzung. „Mutter alles Lebendigen“ wird Eva genannt. Diese Formulierung „alles Lebendige“ begegnet in der Schöpfungsgeschichte, um die Artenfülle der Tiere und Vögel zu bezeichnen, die Erde und Luftraum bevölkern (Gen 1,28.30). Mutter und Hüterin des Lebens in seiner ganzen Fülle wird Eva nicht einfach deshalb, weil sie Kinder zur Welt bringt. So beginnt mit ihren ersten Kindern, Kain und Abel, eine Geschichte, die nicht zum Leben führt, sondern zu Tod. Kain ermordet seinen Bruder Abel. Eine Lebensperspektive entsteht erst später. Eva bringt einen weiteren Sohn zur Welt und gibt ihm einen sehr ungewöhnlichen Namen. „Sie rief seinen Namen: Schet, Setzling!“ und sie kommentiert diese Namensgebung: „Denn: gesetzt hat Gott mir einen anderen Samen an Abels Stelle, weil ihn Kain erschlug“ (Gen 4,25). Schet, Setzling oder besser: Stellvertreter, nennt sie ihr Kind, Stellvertreter des ermordeten Abels. Mit diesem Schet, dem Stellvertreter Abels, geht die biblische Geschichte weiter. Er wird der Stammvater Abrahams, Israels, Jesu. Eine Grundentscheidung der Bibel wird sichtbar. Die Bibel will Geschichte der Opfer erzählen. Und in dieser Geschichte ist die Weitergabe des Lebens von Anfang an verknüpft mit der Verkündigung, dass Gott Tod und Gewalt bestreite, wie es in der Erzählung über Eva sichtbar wird.

Eva nimmt den normalen Lauf der Dinge nicht hin, nach dem die Sieger sich durchsetzen und die Geschichte bestimmen. Und sie glaubt, dass auch für Gott die Geschichte nicht abgeschlossen ist, ohne dass Abel Recht widerfährt. Sie verkündet Gottes Macht, die den Tod bestreitet: „gesetzt hat Gott mir einen andren Samen an Abels Stelle, weil ihn Kain erschlug.» Evas Rolle bei der Weitergabe des Lebens ist demzufolge mit dem Gebären von Kindern nicht beschrieben. Sie tut vielmehr dass, was Männer und Frauen als Eltern oder Patinnen und Paten tun, wenn sie ein Kind zur Taufe bringen. Sie stellen ihr Kind in die Fussspuren eines Ermordeten, damit es als Stellvertreter/in Jesu, als Teil seines „Leibes“ auf Erden lebt, in der Hoffnung, dass der Ermordete bei Gott lebt und den Sieg in der Geschichte davonträgt.

Von dieser Hoffnung auf den Sieg des Lebens über den Tod ist die biblische Geschichtsschreibung geprägt. Deshalb gehören zur Geschichte Israels auch die Erzählungen von Menschen, die Leben weitergegeben haben, ohne dass dabei von biologischer Fortpflanzung überhaupt die Rede ist. Die Prophetin Debora heisst „Mutter in Israel“, weil sie den Anstoss gibt zu Israels Befreiung (Ri 5,7). Die Propheten Elia und Elischa werden „Vater“ genannt, weil sie mit Rat und Tat der Gemeinschaft neue Lebensperspektiven eröffnet haben (2 Kön 2,12; 13,14). In diesem Sinne sagt der Babylonische Talmud von einem Menschen, der einen anderen in Gottes Weisungen unterrichtet, es ist, als habe er ihn erschaffen (bSanhedrin 99b). Leben wird geschenkt, wo Gottes Wege erzählt und erkannt werden. Rabbi Akiva kann in einer Diskussion über das Gebot „seit fruchtbar und mehret euch“ (Gen 1,28), vom Lernen und Lehren der Thora erzählen (bJevamot 62b). Dieses Gebot wird erfüllt, wo Gottes Weisungen weiter gegeben werden. Weitergabe des Lebens geschieht, wo Menschen lehren und lernen, Segen zu wählen statt Fluch, Leben zu wählen, statt den Tod.

Paulus teilt die Überzeugung der rabbinischen Gelehrten. Er nennt sich selbst Vater der korinthischen Gemeinde, sie nennt er seine „geliebten Kinder“, und schreibt: „Ich habe euch durch das Evangelium in Jesus Christus gezeugt“ (1. Kor 4,14 f). Mit der Konsequenz, dass Paulus den Frauen und Männern der korinthischen Gemeinde zur Ehelosigkeit rät. Sie können sich dann besser auf die neuen nicht biologisch geprägten Bindungen in der Gemeinde einlassen. Auf jeden Fall sieht er keine Verpflichtung zur biologischen Fortpflanzung und in ihrer Folge auch keine Verpflichtung zur Ehe. Mit Worten des Trostes und Taten der Liebe in der Nachfolge Jesu haben wir Teil am Schöpfungswirken Gottes, das neues Leben schafft. Weitergabe des Lebens geschieht, wo wir anderen helfen, aus dem Würgegriff von Gewalt und Todes heraustreten können und als Kinder Abrahams und Saras zu neuem Leben zu finden (Röm 4). Die Fortpflanzungsorgane bestimmen für die Jesusleute nicht die Lebenswege von Frauen und Männern. Kinder werden auf dem gemeinsamen Weg geschenkt. Als Petrus einmal beunruhigt sich an Jesus wendet und fragt: „Wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt“ (Mk 10,28). Was wird nun aus uns? Es gab damals keine Renten und keine Versicherungen, einzelnen waren besonders im Alter auf die eigenen Kinder angewiesen. Da malt Jesus dem beunruhigten Petrus den Segen aus, der auf ihrem Aufbruch liegt: hundertfach werden sie empfangen, Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker (Mk 10,29 f). Jesus verspricht denen, die sich mit ihm auf den Weg machen, und deshalb z. B. auf eigene Kinder verzichtet haben, ökonomische Versorgung. Er sieht sie getragen von Geschwistern, eingebunden in die Generationenfolge, mit Verantwortung für Kinder, an die sie ihr Leben weitergeben. Die Fülle der für das menschliche Leben wesentlichen Funktionen wird ihnen versprochen.

Eine peinliche Reduktion dieser Verheissung wird in Kauf genommen, wenn die EKD Orientierungshilfe diese Erfahrung von Lebensfülle an Ehe und Familie bindet. Eine reduzierte Vorstellung von der Weitergabe des Lebens führt zur Verfälschung des biblischen Zeugnisses und begründet eine Hierarchisierung der Lebensformen, die nicht nur die Lebensgemeinschaften von Lesben und Schwulen negiert, sondern alle anderen Lebensformen, sei von Singles und Verwitweten, sei es von Kommunitäten herabwürdigt.

Die individuelle Lebensgestaltung

Möglicherweise klingt das Bild einer Gemeinde, die als Gegenöffentlichkeit gegen gesellschaftliche Machtstrukturen fungiert und einen Lebensraum für Kinder, Alte, Kranke und Arme darstellt, fremd in unseren Ohren. Vielleicht steht der häufig so wenig gemeinschaftliche Charakter der volkskirchlichen Gemeinden im Hintergrund, wenn Jesu Verheissungen auf neue tragende Gemeinschaftsformen in unseren Ohren zweifelhaft geworden sind. Diese Verheissungen waren allerdings von Anfang an Zuspruch und Herausforderung für die Entscheidungen über die je individuelle Lebensgestaltung, die den einzelnen durch die Gemeindegründungen nicht abgenommen worden waren. Die Apostelgeschichte erzählt z.B. im Rahmen der Gemeindegeschichtsschreibung von verschiedenen Lebensformen und dabei kommen Ängste und Risiken zur Sprache und auch Kritik wird deutlich. Von einem Ehepaar Hananias und Saphira wird berichtet (Apg 4,32-5,11). Hananias will in der Gemeindeöffentlichkeit zu denen gehören, die Häuser und Ländereien verkaufen und den Erlös – sofern sie wollen – als Gemeinschaftseigentum zur Verfügung stellen. Freiwillig geschieht dieses Sponsoring der Gemeinde, dennoch übergibt Hananias heimlich nur einen Teil vom Verkaufserlös der Gemeinde als Gemeineigentum. Öffentlich will er zu den Engagierten der Gemeinde zählen, heimlich hegt er jedoch den Gedanken: lieber eigenes Vermögen anlegen, um notfalls aussteigen zu können. Trügerisch ist das Vertrauen, zu dem er einlädt. Er ist nur mit halbem Herzen bei dem neuen Lebensentwurf und geht schliesslich an dieser Halbherzigkeit zur Grunde. Ungewöhnlich an der Geschichte ist, dass das Ehepaar in dieser Geldangelegenheit nicht einfach als Einheit betrachtet wird. Hananias, nicht Safira hat etwas von dem Erlös zurückbehalten. Safira hat jedoch von der Heimlichkeit ihres Mannes gewusst (5,2) und steht nun vor der Frage, ob aus ihrem Mitwissen Mittäterinschaft wird oder nicht. Saphira muss sich zwischen ihrem Mann und der Gemeinde entscheiden. Wird sie das Handeln ihres Mannes decken oder für ein verlässliches Vertrauensverhältnis in der neuen Gemeinschaft eintreten? In der Geschichte von Hananias und Saphira werden Verbundenheit innerhalb der Ehe und Verbundenheit innerhalb der Gemeinde einander gegenüber gestellt. Doch Saphira fügt sich in die Struktur der Ehe und deckt ihren Mann. Auch sie versucht eine Doppelexistenz und stirbt daran. Nach der Geschichtsdarstellung der Apostelgeschichte bricht mit diesem Konflikt zum ersten Mal der Tod in das Leben der jungen Gemeinde hinein und lässt sichtbar werden, wie massiv in den frühchristlichen Gemeinden die Spannung, ja die Bedrohung empfunden wurde, die die traditionelle Lebensform Ehe für die Verantwortung innerhalb der Gemeinde bedeutet.

Eine Gegengeschichte dreht sich um eine Jüngerin namens Tabita aus Joppe (Apg 9,36-43). Wieder bricht die zerstörerische Gewalt des Todes in die Gemeinde hinein. Tabita wird krank und stirbt. Petrus, der zu Hilfe geholt wird, ist mit verzweifelten Hinterbliebenen konfrontiert. «Da traten alle Witwen zu ihm, sie weinten und zeigten die Leibröcke und Obergewänder, die Tabita gemacht hatte, als sie noch bei ihnen war» (9,39) Die Trauernden sind in dieser Geschichte nicht Familienangehörige. Tabita lässt eine Gruppe Frauen zurück. Eine Lebensform wird sichtbar, von der z.B. auch im 1 Timotheusbrief die Rede ist (1 Tim 5,16): Frauen leben zusammen und in ihrer Gemeinschaft werden Witwen von einer erwerbstätigen Frau versorgt. Sie organisieren sich in einer zerbrechlichen Lebensform, der – so erzählt die Geschichte – Gottes besondere Zuwendung gehört. Gott stellt die bedrohte Gemeinschaft der Frauen wieder her. Er eröffnet ihrer Lebensform eine neue Zukunftsperspektive – was die Erzählung mit der Auferweckung Tabitas zum Ausdruck bringt.

Mit gesellschaftlichen Randgruppen vor Augen werden in der Apostelgeschichte die Lebensformen der einzelnen befragt, ob sie Menschen dabei helfen, an der Befreiung teilzunehmen, die Gott in Gang gesetzt hat. Einmal mehr wird deutlich, dass die These, es ginge der Bibel um die Ehe als der besonderen, gottgewollten Lebensform, unhaltbar ist. Es geht Gott darum, Not zu beenden, Versöhnung zu schaffen und gemeinschaftliches Leben zu ermöglichen. Individuelle Lebensversuche und Lebensformen müssen sich in diesem Rahmen verantworten. Dabei gibt es Formen, wie die Lebensgemeinschaft von Lesben und Schwulen, die sich die Frauen und Männer biblischer Zeiten schwer vorstellen konnten, umgekehrt gibt Lebensformen ihrer Zeit, wie das polygame Zusammenleben eines Mannes mit mehreren Frauen oder eine patriarchal strukturierte Ehe mit klarem Oben und Unten, die wir heute unakzeptabel finden. Die Frage nach einer verantwortbaren Gestalt der individuellen Lebensformen kann sinnvoll nur immer wieder neu im Gespräch über die gesellschaftlichen Problemstellungen der eigenen Zeit gestellt und beantwortet werden. Dabei darf die kirchliche Verkündigung all denen, die nach neuen Wegen suchen oder alte Wegen von neuem erproben, Jesu Verheissung einer Gemeinschaft, in der die Fülle des Lebens geschenkt wird, nicht schuldig bleiben.

Über die Autorin

Dr. Klara Butting, Uelzen, geb. 1959. Die habilitierte Alttestamentlerin ist Pastorin in Uelzen und Studienleiterin von Erev-Rav, Verein für biblische und politische Bildung. Erev-Rav (das ist das „viele fremde Volk“, das nach Ex 12,38 mit Israel aus der Sklaverei geflohen ist) veranstaltet Studienwochen, gibt Publikationen heraus und betreut einen Frauenförderungsfonds mit der Zielsetzung einer Befreiungstheologie im Kontext Europas.

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