Lückenbüsser

«Wenn es einem schlecht geht, findet man eher zu Gott» – dies ist das Motto jener Frommen, die nur darauf warten, dass die Menschen in die Misere geraten und sie ihnen dann ihren jenseitigen Glauben eher schmackhaft machen können. Der deutsche Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer dagegen sagte: «Im Leben und im Diesseits, hier ist Gott!»

Am 29. Mai 1944 schrieb Bonhoeffer aus dem Gefängnis einen Brief an seinen Freund Eberhard Bethge. Der protestantische Pfarrer, der ein Jahr später auf Befehl Hitlers hingerichtet werden sollte, hatte soeben Carl Friedrich von Weizsäckers Buch «Weltbild der Physik» gelesen und folgerte nun:

«Es ist mir wieder ganz deutlich geworden, dass man Gott nicht als Lückenbüsser unserer unvollkommenen Erkenntnis figurieren lassen darf; wenn nämlich dann – was sachlich zwangsläufig ist – sich die Grenzen der Erkenntnis immer weiter herausschieben, wird mit ihnen auch Gott immer weiter weggeschoben und befindet sich demgemäss auf einem fortgesetzten Rückzug. In dem, was wir erkennen, sollen wir Gott finden, nicht aber in dem, was wir nicht erkennen; nicht in den ungelösten, sondern in den gelösten Fragen will Gott von uns begriffen werden. Das gilt für das Verhältnis von Gott und wissenschaftlicher Erkenntnis. Aber es gilt auch für die allgemeinmenschlichen Fragen von Tod, Leiden und Schuld. Es ist heute so, dass es auch für diese Fragen menschliche Antworten gibt, die von Gott ganz absehen können. Menschen werden faktisch – und so war es zu allen Zeiten – auch ohne Gott mit diesen Fragen fertig, und es ist einfach nicht wahr, dass nur das Christentum eine Lösung für sie hätte. Was den Begriff «Lösung» angeht, so sind vielmehr die christlichen Antworten ebenso wenig – oder ebenso gut – zwingend wie andere mögliche Lösungen. Gott ist auch hier kein Lückenbüsser; nicht erst an den Grenzen unserer Möglichkeiten, sondern mitten im Leben muss Gott erkannt werden; im Leben und nicht erst im Sterben, in Gesundheit und Kraft und nicht erst im Leiden, im Handeln und nicht erst in der Sünde will Gott erkannt werden. Der Grund dafür liegt in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Er ist die Mitte des Lebens und ist keineswegs «dazu gekommen», uns ungelöste Fragen zu beantworten.»
Dietrich Bonhoeffer, Brief an Eberhard Bethge aus dem Gefängnis in Tegel vom 29. Mai 1944, in: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Gütersloher Taschenbücher 2002
Gefunden im «Aufbruch» 2/2006
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