Maria: Mein Sohn

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I

Irgendwann bist du mir entglitten. So wie deine Brüder auch, als sie grösser wurden, sich zu den Männern hielten. Und doch anders. Eigentlich hast du mir nie gehört. Hast dich immer verwahrt, von Kindesbeinen an. Hast fremd geguckt, geschwiegen, hast die Tür hinter dir zuschlagen lassen, bist fortgegangen, in die Schlucht, ins Gebirge, fort von uns und hast mit der Stille gesprochen. Wie selten bist du zur Arbeit bereit gewesen, wie selten sassest du mit den Geschwistern im Haus. Immer bist du deiner Wege gegangen. Hast andere Menschen gesucht. Du hast sie gefunden, hast dich unterweisen lassen, hast ihnen zu Füssen gesessen, nein, von uns wolltest du nichts. Oder wenig. Essen zwar und dein Lager, als du klein warst an meiner Seite, später bei Jakobus. Dem Vater bist du ausgewichen, er wollte ja etwas von dir. Offenbar etwas, was du nicht wolltest.

Was haben wir nicht begriffen, wann ist es passiert, was geriet uns falsch? Wann wichest du zum ersten Mal meinem Blick aus? Wann begannst du, ohne Antwort zu gehen? Wann hielt ich dich zum letzten Mal in meinem Arm, betrachtete dich im Schlaf? Mein Herz tat mir weh, schon lange, bei deinem Anblick. Der Klang deiner Worte, an mich gerichtet, war mir kostbar, so selten geschah es. Nie geschah es im Zorn. Du redetest vernünftig, nur hatte es nichts mit dir zu tun und nichts mit mir und so hätte es auch ungesagt bleiben können. Ungesagt. Ja. Aber dass du überhaupt auf mich merktest und zu mir hin sprachest, egal was, das genügte. Musste genügen. War viel. Denn ich liebe dich, mein Sohn, ja, du bist mein Sohn, mein Ältester, ich liebe dich. Und nichts werde ich vergessen, nichts, was mein und dein war. Und läge es noch so fern, solang zurück. Heute bist du mir fremd, damals gebar ich dich und war die erste, die dich auf dies er Erde begrüsste, voller Freude und Jubel.

Was immer in der Welt auf dich wartet, das erste, was du bekamst, war meine Umarmung. Und diese Welt wollte ich dir schenken, vor dir die Wunder des Lebens aus breiten und dir alles zeigen, bereiten, erklären. Wollte dich mitnehmen und deine Augen weit und gross machen. Ja, darbieten wollte ich dich allem Schönen, aller Herrlichkeit und Fest um Fest mit dir feiern. Ich wollte dich schützen vor Kälte und Regen, vor Wund sein, Ausschlag und Fieber, vor Schlägen und Schande. Wollte dir Meere an Kraft in die Seele singen, Kraft für ein Leben, Wiegenlieder, endlos, dich wiegen, bergen und nähren an meiner Brust, schaukeln und wiegen wollte ich dich und dich satt machen Tag und Nacht. So viel Mut hatte ich damals, so viel Liebe!

Ich wollte bestehen, mit dir, für dich und mich. Stolz trug ich dich in die Welt und vor die Menschen hin. Ich wärmte dich, und du gabst mir, mich umarmend, einen Himmel voller Vertrauen. Nichts war mir wichtiger als du. Vor allem und jedem hätte ich dich verteidigt, dich aus jeder Flut, jedem Brand gerissen. Hoch aufgerichtet, die Augen nie von dir wendend, lotste ich dich Stunde um Stunde dorthin, von wo aus du selbst gehen könntest, ohne dich zu verletzen.

Nein, für mich behalten wollte ich dich nicht. Das nicht. Aber dass du so gehen würdest, so, dass kein Blick mehr für mich bleibt – o, ich erinnere mich wohl deiner Blicke und wie oft du mich dunkel anschautest! -, dass kein Schritt, kein Wort mehr zu mir dringt, dass du dich abwendest, nicht antwortest, wenn ich dich rufe, nein, mein Sohn, das konnte ich mir nicht vorstellen. Heute tust du, als hätten wir nie zueinander gehört, als sei mein Anblick dir unangenehm, ich und deine Geschwister eine lästige Erinnerung an früher. Du warst mein Schatz, ein Gefäss, in das ich meine Zuneigung goss. Was bist du heut!?

Weisst du, alles andere ist mir gleichgültig, gleichgültig, was du denkst, was du tust, was die Leute über dich reden, egal, wie deine Brüder über dich urteilen… für mich zählt nur eines: ob du mich verschmähst. Und das, mein Sohn, tust du. Du hast mir den Himmel entzogen, das Vertrauen, das Glück, deine Mutter zu sein. Ein Stachel, tief in mich gestossen, ein bitteres Kraut unter meiner Zunge.

Ja, ich werde meinen Söhnen folgen. Ich alte Frau werde mich aufmachen, um dich zu rufen. Zu schauen, ob du dich erinnerst an unsere Geschichte, an das Leben, das ich dir gab. Denn siehe, ich habe gehört, dein Leben ist in Gefahr.

II

Die Menge der Leute ist bestürzend. Sie strömen immer noch, obwohl das Haus überfüllt ist. Wie Mauern stehen sie. Still. Lauschen angestrengt. Die Hörenden aus dem äusseren Ring machen Platz, sie schicken jemanden vor: Jesus, Sohn, Bruder, hier sind wir, deine Familie, und wollen dich sprechen. Wir warten. Vergeblich. Er kommt nicht. Nein! Keine Antwort von drinnen. Nur einen zögernden Boten zurück. Während alle anderen uns anstarren. Entschuldigend murmelt der Junge: Er hätte nur uns, sagt er, Mutter und Geschwister sind ihm alle, die hier sind und Gottes Reich suchen, sonst kennt er keinen, keine Mutter, wer es auch sei, keine Brüder. O Gott! Wahrhaftig, er kennt uns nicht. Er kennt mich nicht. Mich…. Lass es nicht wahr sein! Bringt mich weg. Bringt mich fort von hier. Ich muss schreien. Bringt mich auf den Berg dort, lasst mich über das Wasser schauen und schreien.

Lasst mich allein. Ich will weinen und schreien. Nur einmal noch. Ich will meine Kleider zerreissen, denn ich habe diesen Sohn nicht mehr. Ich habe keinen geliebten Sohn, der, der es eins t war, steht unten in einem fremden H aus und verleugnet mich, während er zu den Massen spricht, betet, Hände auflegt und heilt. Und mich vergisst. Mich nicht kennt, nicht nach mir fragt, mich keines Blickes würdigt. Mich zurückstösst. Mich mit seiner Kälte peitscht vor aller Augen und mir ohne Erbarmen den Tränenkelch reicht. Hätte ich ihn nur nicht geboren. Wäre ich nicht seine Mutter! Meine Haut ist zum Geschwür geworden, mein Atem erstarrt. Mir ist übel, es würgt mich, ich grabe meine Nägel in mich, um den Schmerz zu betäuben. Aber er lässt sich nicht betäuben. Ich falle, o Gott, ich falle, wohin….

III

Was wird werden, was, wenn er so ist… Alle Welt spricht von ihm. Held oder Satan. Er war einmal mein Kind. Ich kenne ihn nicht mehr. Ich weiss nicht, wer er ist. Wie. Was er fühlt. Wen sein Herz sucht. Ich kenne nur das bittere Kraut verschmähter Liebe, das Eis, das die Wurzeln des Lebens gefangen hält und mich krümmt. Ich kann nicht vergessen. Das hat mein Sohn mir getan. Wenn ich will, kann ich ihm heute begegnen.

IV

Er hat mich gesehen. Angesehen hat er mich. Meinen Blick hat er gesucht, wieder und wieder und festgehalten, während ihm blutiger Schweiss in die Augen rann. Wie damals, als wir uns nahe waren, fühlte er, was ich fühlte. Ich barst vor Schmerz. Mein Sohn!!!!! Mein Sohn, mein Sohn…. Meine Hände streckten sich aus, ich schrie, schrie und brüllte über alle hinweg. Er schaute unaufhörlich in mich hinein und bot mir sein Herz, das jetzt Angst um Angst war. Gepeinigt, in die Enge getrieben, wollte er, dass ich ihm nahe sei. Nein, er hatte mich nicht erwartet, nicht hier, nicht jetzt, überhaupt nicht mehr. Nun war ich da und konnte nichts mehr für ihn tun, aber er brauchte mich. Solange er mich sehen konnte, schien er nicht gänzlich verlassen. Verlassen war er aber, verlassen von Gott und der Welt. Jetzt fand er mich staunend wieder. Jetzt, da ihm schrecklichster Schrecken zustiess und sich kein Ausweg, keine Umkehr, kein Trost und keine Linderung mehr fand, war schliesslich eine Stille zwischen ihm und mir. Er saugte meine Schreie in sich auf. Seine Augen überschütteten mich mit Qual, nahmen meine verzweifelte Zärtlichkeit an. Dann war er es, der schrie. Lauter noch als ich. Ich verlor mich, während er verging.

V

Ich rede mit deinen Geschwistern. Freunde kehren zurück. Sie setzen sich an meinen Tisch, bei Wein und Brot, an den Tisch einer Frau. Die Hitze dieses Sommers ist gross. Ich verstehe so vieles nicht. Niemand versteht es. Nichts kann schlimmer sein als dein Tod. Was ist mein Dasein ohne dich… Wie ein Weg mit dir, nach dies er letzten Stunde. Ich spüre dich, jetzt erst. In dir spüre ich mich lebendig werden, denn ich habe deine Augen gesehen, gesehen habe ich dein Innerstes. Liebe und Leben haben wir einander gegeben, im Angesicht des Todes. Und davon rede ich.

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Anmerkung der Redaktion LSBK: Wir konnten die Quelle dieses Textes nicht eruieren. Vielleicht hilft uns jemand aus der Leserschaft.