Predigt zu Lukas 18

Lukas 18:1-8 1 Jesus erzählte den Jüngerinnen und Jüngern ein Gleichnis dafür, wie notwendig es ist, allezeit zu beten und nicht müde zu werden. 2 Er sagte: »In einer Stadt lebte ein Richter, der weder theos/Gott phobos/fürchtete noch einen Menschen achtete. 3 Auch eine Witwe lebte in jener Stadt; die kam immer wieder zu ihm und sagte: ›Verschaffe mir dikaiosyne/Recht gegenüber meinem Gegner‹ ! 4 Eine Zeit lang wollte der Richter nicht. Dann aber sagte er sich: ›Wenn ich auch Gott nicht fürchte und keinen Menschen achte, 5 werde ich doch dieser Witwe Recht verschaffen, weil sie mich belästigt; sonst kommt sie noch am Ende und schlägt mich ins Gesicht.‹6 Da sagte kyrios/Jesus: »Hört, was der ungerechte Richter sagt. 7 Aber Gott sollte den Auserwählten, die Tag und Nacht zu Gott schreien, kein Recht schaffen und für sie keinen langen Atem haben? 8 Ich sage euch: Gott wird ihnen Recht schaffen in kurzer Zeit!


Liebe Menschen

Die Witwe im Evangelium ist von Hoffnung getragen. Sie gibt nicht auf, obschon sie keinen Grund zum Optimismus hat. Zur Zeit Jesu gehörten Witwen zu den Marginalisierten.

Ihre Aussage «Verschaff mir Recht» ist auch der Titel einer Ausstellung, die 2019 in dieser Kirche gezeigt wurde. Inzwischen fand sie sie in verschiedenen Kirchen und Gemeinden im deutschen Sprachraum statt. Thema der Ausstellung ist die Kriminalisierung von Menschen aus der LGBT-Communitiy in über 70 Ländern der Welt und die Unterstützung dieser Diskriminierung durch die katholische Kirche. 10 Menschen äussern erschütternde Erfahrungen, welche sie im kirchlichen Kontext gemacht haben. Besonders beeindruckt hat mich das Beispiel, von Davis Mac-Iyalla, einem schwulen Mann aus Nigeria.

«Homosexuelle in Nigeria leben immer in Angst. Es sind vor allem die religiösen Oberhäupter, die im ganz Land Hass schüren gegen Homosexuelle. Weil die Kirche aber einen großen Einfluss auf die Medien hat, sehen auch nicht-gläubige Menschen Schwule und Lesben als Bedrohung. Ich glaube an Gott und war immer ein engagiertes Kirchenmitglied. Doch mit meinem Coming-out ließ mich meine Gemeinde im Stich. Selbst, als ich verprügelt und beleidigt wurde, nahmen sie mich nicht in Schutz, ganz im Gegenteil: Ich sei ein Sünder und solle zur Hölle fahren. Das tat sehr weh. Ich hatte damals Momente, in denen ich mir wünschte, niemals geboren zu sein. Trotzdem habe ich mich nicht abschütteln lassen: Ich bin jetzt wieder sehr aktiv in der Gemeinde. Ich glaube, dass die Kirche sich nicht dadurch verändert, dass man sich von ihr abwendet.»

Ich weiss nicht, ob Davis Mac Iyalla sehr viel Anlass zum Optimismus hat … Er gibt die Hoffnung nicht auf, trotz verzweifelter Erfahrungen. Er ähnelt der Witwe im Evangelium.

Der Kulturwissenschafter und Katholik Terry Eagleton schreibt: «Man kann alles andere als optimistisch sein und trotzdem entschieden hoffnungsvoll». Darum geht es: Hoffnung ist eine Haltung, für die wir uns entscheiden müssen.

Das Neue Testament kennt die spannungsreiche Vorstellung einer durch das Verzweifeln und das Aussichtslose hindurchführenden Hoffnung. Es erzählt davon, wie Menschen die Beziehung zu Gott nicht verlieren.

Etty Hillesum, eine Jüdin zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Amsterdam, führt ein Tagebuch, in dem sie auch ihre Beziehung zu Gott beschreibt. Sie schreibt: «Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt (…) Dies eine wird mir immer deutlicher: (…) dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst.  Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott.»

In diesem Sinn helfen auch die Witwe im Gleichnis Jesu und Davis Mac Iyalla Gott. Sie helfen ihm durch ihr Dranbleiben. Dafür braucht es grosses Vertrauen.

Wie kommen wir zu einem solchen Vertrauen? Etty Hillesum kann uns Vorbild sein. Sie setzt die innige Beziehung zum Leben mit der Beziehung zu Gott gleich. Sie schreibt: «Das Leben selbst muss immer die Urquelle sein (…) Jenes Selbst, das Allertiefste und Allerreichste in mir, in dem ich ruhe, nenne ich ‹Gott›.»

Und weiter: «Ich weiss von Verfolgung und Unterdrückung, von Ohnmacht und Hass und dennoch: Ich liege an der nackten Brust des Lebens und seine Arme legen sich beschützend um mich und sein Herzklopfen ist so regelmäßig und leise, ach auch treu, als wollte es nie aufhören. (…)  Das Leid und die Verfolgung, die wundgelaufenen Füsse und der Jasmin hinterm Haus – all das ist ein einziges, starkes Ganzes.» Etty Hillesum lebte in grosser Bedrängnis, die immer mehr zunahm. Ihr äusserer Raum wurde immer kleiner. So wurde es Juden in Amsterdam verboten, im «Wald» spazieren zu gehen. Als «Wald» galt jede Ansammlung von zwei bis drei Bäumen…

Doch sogar als Etty im Lager leben musste, gab sie nicht auf, ihr innerer Raum und so auch ihre Widerstandskraft wuchsen umso mehr:

«Das Leben ist etwas Herrliches und Grosses, wir müssen später eine ganz neue Welt aufbauen – und jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein weiteres Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen […]. Und wenn wir diese Zeit unversehrt überleben, körperlich und seelisch unversehrt, aber vor allem seelisch, ohne Verbitterung, ohne Hass, dann haben wir auch das Recht, nach dem Krieg ein Wort mitzureden. Vielleicht bin ich eine ehrgeizige Frau: Ich möchte ein sehr kleines Wörtchen mitreden (…) Ich möchte lange leben, (…) und wenn mir das nicht vergönnt ist, nun, dann wird ein anderer mein Leben dort weiterleben, wo das Meine unterbrochen wurde.»

Die Hoffnung, dass das Leben weitergeht, dass wir künftigen Generationen verpflichtet sind, kommt auch im Psalm 48 zur Sprache:

«Umkreist Zion und umschreitet die Stadt, zählt ihre Türme!
Betrachtet ihre Schutzmauer genau, staunt über ihre Paläste,
damit ihr der künftigen Generation erzählen könnt:
So ist Gott, unsere Gottheit, für immer und auf Dauer»

Wir leben nicht in der gleich grossen individuellen Not wie Etty Hillesum.  Möglicherweise haben wir nicht so viel Glauben und Vertrauen wie sie. Ich jedenfalls nicht.
Vertrauen braucht Nahrung. Etty Hillesum nährte sich vom Gebet und von ihrem weiten inneren Raum, ihrer tiefen Beziehung zu Gott und dem Leben. Etty Hillesum zeigt, dass es möglich ist, auch in dunkler Zeit die Hoffnung nicht zu verlieren. Sie ist Zeugin Gottes. Früher nannte man solche Zeugen «Märtyrer» abgeleitet vom griechischen Wort Martyrion, das Bezeugen, Zeugnis oder Zeichen bedeutet. So verstandene Märtyrer suchen nicht das Leiden, wie ihnen oft unterstellt wird, sondern sie richten ihren Blick auf das Leben in seiner Fülle und erzählen davon.

Etty Hillesum kann uns inspirieren, sie zeigt, dass es möglich ist, auch in äusserer Not den inneren Raum weit zu halten, an «Gott» und der Hoffnung festzuhalten.  Das heisst, sich an der Liebe zum Leben zu orientieren, versuchen, mit schmerzenden Blasen an den Füssen den blühenden Jasmin zu sehen. Ob es immer gelingt? Das kann sich jede hier anwesende Person selber fragen. Zeuge zu sein oder zu werden, wie Etty darf keine moralische Forderung werden, die uns auferlegt ist und uns «knechtet». Doch der Blick auf Menschen, welche an der Hoffnung festhalten, kann uns ermutigen und bestärken. Auf jeden Fall ist es eine rationale, eine vernünftige Entscheidung, sich auch in grosser Bedrängnis für die Hoffnung zu entscheiden, wie der am Anfang erwähnte Terry Eagleton schreibt. Hoffen hat nichts mit oberflächlichem Optimismus zu tun, nichts mit positivem Denken im Sinn von «es chunt de scho guet.» Hoffnung ist eine Haltung, an ihr zeigt sich, wie wir im Leben stehen. Wir können uns mindestens für den Versuch entscheiden, unsere Hoffnung immer wieder zu nähren und «Zeugen» zu werden.

Auch Davis Mac Iyalla aus Kenia und die anderen Menschen der Ausstellung die ich am Anfang erwähnt hatte, sind Zeugen. Davis muss in seiner Gemeinde trotz aller Verletzung etwas erfahren haben, das ihn ermutigt weiterzumachen und nicht aufzugeben. Sein Vertrauen muss gross sein. Wichtig ist auch unsere Verbundenheit mit Menschen wie ihm, sie brauchen uns, unsere Zeugenschaft. Wir können Zeuge sein, es ist menschenmöglich. Wir können uns für Hoffnung und Solidarität entscheiden.

Wenn unser innerer Raum nicht weit genug und unser Vertrauen nicht gross genug ist, können wir auch Nahrung in äusseren spirituellen Räumen finden. Räume können zu uns sprechen, uns an Gott erinnern. Diese Kirche hier ist so ein Raum, der unsere Spiritualität aktivieren und uns wachsen lassen kann. Sie ist seit langem ein Raum für queere Menschen. Gott braucht Räume wie diese Kirche, Räume, wo die Vielfalt des Lebens gefeiert und gepflegt wird. 

Auch hierzulande sind Rechte und gesellschaftliche Position von queeren Menschen noch nicht immer selbstverständlich frei von Diskriminierung. Ich hoffe, dass wir spirituelle Nahrung finden, um so dranzubleiben, hoffen und kämpfen zu können.

Auch dieser Gottesdienst im Zeichen des Regenbogens wird uns, so hoffe ich «nähren», nicht nur queere Menschen, sondern alle. Denn der Regenbogen gehört nicht nur der Queer-Community. Er ist auch ein Friedenssymbol. Ich habe die Sehnsucht, dass wir alle genug Vertrauen finden, um gerade in diesen Zeiten wie die Witwe im Evangelium dranzubleiben, damit Recht sich durchsetzen kann.

Gott braucht uns und unser Dranbleiben. In diesen Zeiten, wo es immer mehr Dunkelheit gibt, ist es wichtig «ein Stück von Gott» in unserer Welt zu retten, zu bewahren, ja vielleicht auch zu verteidigen. Gott und Menschen sind auf unser «Dranbleiben» angewiesen. An der Hoffnung festhalten, sich ihr immer wieder von Neuem zuwenden, auch wenn die äusseren Umstände uns in die Verzweiflung treiben, ist entscheidend für das Leben. Ich sage das ganz ohne Pathos:  Dies ist entscheidend dafür, wie wir auf diesem Planeten weiterleben. Ich wünsche uns allen den notwendigen Mut, die Kraft und das Vertrauen.


Gehalten im Regenbogen-Gottesdienst am 16. Oktober 2022 von Elisha.