Inhaltsverzeichnis
Kurz zur Einordnung, bevor du weiterliest:
In diesem Text geht es um die Realität queerer Christinnen. Es geht um geistlichen Missbrauch, Konversionstherapien, Bibelzitate als Waffe – und darum, wie ich trotzdem oder gerade deshalb noch glaube. Vielleicht findest du dich in Teilen wieder. Vielleicht nicht. Aber ich hoffe, du liest mit offenem Herzen. Denn dieser Text ist nicht gegen jemanden geschrieben, sondern für alle, die sich lange ausgeschlossen fühlten von der Kirche, der Gnade, dem Segen. Für alle, die glauben wollen, dass Gott wirklich Liebe ist. Auch für Sie.
„Gott liebt den Sünder, aber nicht die Sünde.“
Klingt wie ein Kalenderspruch aus der Rubrik „fromm, falsch, fertig“.
Oder wie das christliche Pendant zu „Ich hab ja nichts gegen Schwule, aber …“.
Wenn ich einen Franken hätte für jedes Mal, dass mir dieser Satz in einem kirchlichen Kontext entgegenschallte – ich hätte die Regenbogenfenster der Elisabethenkirche allein finanzieren können. Mit Goldmosaik. Und eingebauter Diskokugel.
Die jüngsten Kommentare zur Regenbogenfeier in der Offenen Kirche Elisabethen – nun im neuen Format als Pride-Gottesdienst – sind dabei nichts Neues. Es ist fast schon liturgisch:
- Wir kündigen den Gottesdienst an.
- Die Community freut sich.
- Und dann kommen die üblichen Stimmen aus dem Off, pardon – aus der „bibelgetreuen Ecke“. Mit Begriffen wie „Sodomie-Fest“, „Blasphemie“, „Gott wird das richten“ und der Teenie-Weisheit: „Ich bin 19 und weiss, wie sich eine Kirche zu verhalten hat.“ Herzlichen Glückwunsch. Mit 19 war ich in meiner zweiten Konversionstherapie.
Zwischen Scham und Segen: meine Geschichte
Ich habe etliche Jahre in eher konservativen Freikirchen und charismatisch-pfingstlichen Kreisen verbracht. Damals dachte ich, ich müsste mich „heilen“ lassen, um Gott wirklich gefallen zu können.
Ich war „zu queer“, zu unbequem, zu anders.
Ich war bereit, mich zu verändern – aus Liebe zu Gott. Und aus Angst.
Also machte ich mehrere „Konversionstherapien“.
Das Ergebnis?
Nicht „heil“, sondern heillos:
Selbsthass, tiefe Scham, lähmende Schuldgefühle – und eine Angst vor Gott, die mir den Atem nahm.
Dass ich heute frei atmen kann, habe ich der Gnade Gottes zu verdanken –
und einer Kirche, die aufgehört hat, nur für die Frommen da sein zu wollen.
Die fünf Klassiker – und warum sie nicht stimmen
1. „Gott liebt den Sünder, aber nicht die Sünde“ – oder: Die Hintertür der Ablehnung
Dieser Satz klingt erstmal pastoral. Ist er aber nicht. Er ist toxisch verkleidet als Trost.
Denn wenn meine sexuelle Orientierung oder meine geschlechtliche Identität als „Sünde“ gilt –
dann ist der Satz eben doch nichts anderes als:
„Gott liebt dich – wenn du dich änderst.“
So subtil, so zerstörerisch.
Das hat mit Gnade nichts zu tun.
Das ist geistlicher Missbrauch im Bibelvers-Gewand.
2. „Die Bibel ist da ganz klar“ – selten so gelacht
Die Bibel ist vieles: heilig, kraftvoll, voller Leben –
aber „klar“ ist sie selten. Und schon gar nicht zu Fragen queerer Identität.
Die sogenannten clobber passages (wörtlich: „Keulenverse“) sind gerade mal sechs Stellen,
die immer und immer wieder gegen queere Menschen verwendet werden.
Hier ein kurzer Überblick – mit seriösen Auslegungen:
Genesis 19 (Sodom und Gomorrha)
Wird oft als Anti-Homosexualitäts-Text herangezogen. Dabei geht es um versuchte Gruppenvergewaltigung, Machtmissbrauch und Gewalt – nicht um gleichberechtigte Liebe[1].
➤ Ezekiel 16,49 nennt als eigentliche Schuld von Sodom: Hochmut, Reichtum, Unterdrückung der Armen.
Levitikus 18,22 & 20,13
Teil des „Heiligkeitsgesetzes“. Das verbietet auch Mischgewebe, Muscheln, Tattoos. Wer sich nur diesen zwei Versen herauspickt, betreibt keine Bibelauslegung, sondern theologisches Fingerfood.
Römer 1,26–27
Hier geht es laut Kontext um ausschweifende, exzessive Lust und Kultprostitution, nicht um gleichberechtigte, treue queere Beziehungen[2].
1. Korinther 6,9 & 1. Timotheus 1,10
Die Begriffe malakoi und arsenokoitai sind sprachlich und kulturell höchst unklar.
„Arsenokoitai“ kommt in der Antike fast gar nicht vor – Paulus könnte das Wort sogar selbst erfunden haben[3].
Kurz gesagt:
Die Bibel ist kein queerfeindliches Regelbuch.
Sie ist ein vielstimmiges Zeugnis von Gottes Geschichte mit den Menschen –
und sie fordert uns heraus, nicht zum Urteilen, sondern zum Lieben.
3. „Die Kirche will es allen recht machen“ – tatsächlich?
Nein.
Die Kirche, die queere Menschen willkommen heißt, macht es sich eben nicht leicht.
Sie riskiert Gegenwind, Kritik, Austritte.
Was sie tut, ist: dem Evangelium treu bleiben.
Jesus hat sich selten gefragt, ob er es allen recht macht.
Er hat die Frommen verstört, indem er mit den Ausgegrenzten gegessen hat.
Er hat Menschen aufgerichtet, die religiös diskreditiert wurden.
Er hat gesagt:
„Die Gesunden brauchen keinen Arzt, sondern die Kranken.“ (Markus 2,17)
Mit Verlaub: wenn das keine Einladung zur Regenbogenfeier ist, weiss ich es auch nicht.
4. Die Realität queerer Christ*innen? Kennt ihr nicht.
Die meisten, die mit Keulenversen um sich schlagen, haben niemals die Zerrissenheit erlebt, die queere Christ*innen mit sich herumtragen:
- „Darf ich so sein, wie ich bin?
- Bin ich von Gott geliebt – oder verdammt?
- Gibt es einen Platz für mich in der Kirche – oder bin ich ein Störfaktor?“
Solche Fragen beantwortet man nicht mit Bibelzitaten.
Sondern mit offenen Türen.
Mit ehrlichen Gesprächen.
Mit einer Theologie, die den Menschen sieht.
5. „Blasphemisch!“ – Der Totschlagbegriff für alles, was nicht ins eigene Weltbild passt
Einen queeren Gottesdienst „blasphemisch“ zu nennen, ist bequem.
Denn dann muss man sich weder mit Exegese noch mit Biografien auseinandersetzen.
Dabei ist es vielleicht viel eher blasphemisch, Gott auf eine Hetero-Norm zu reduzieren.
Blasphemisch ist nicht queere Liebe.
Blasphemisch ist, Gottes Gnade nur für sich zu beanspruchen.
Und nun?
Ich stehe als queere Person, als (bald) Pfarrerin, als Überlebende geistlicher Gewalt auf der Kanzel.
Und ich sage:
Gott liebt dich. Voll und ganz.
Nicht, obwohl du queer bist – sondern inklusive.
Du bist kein Fehler. Kein Kompromiss. Kein theologisches Problem.
Du bist Ebenbild Gottes. Und Teil seines Leibes.
Für alle, die das lesen und sich wiedererkennen:
Vielleicht hast du die Angst vor der Hölle noch in den Knochen.
Vielleicht hast du dein ganzes Leben gedacht, Gott wolle dich „ändern“.
Vielleicht hast du selbst mal geglaubt, „die Bibel sei da ganz klar“.
Vielleicht hast du versucht, dich passend zu machen, zu genügen, zu verschwinden.
Und vielleicht merkst du jetzt, ganz leise:
Nein. Die Liebe Gottes ist grösser als deine Angst.
Du bist nicht allein.
Nicht unrein.
Nicht verstossen.
Du bist kein theologischer Störfall, kein moralisches Problem, kein Irrweg.
Du bist ein Mensch. Ein geliebter. Ein geschaffener.
Denn du bist – wie jede*r – im Ebenbild Gottes geschaffen.
Mit Würde. Mit Schönheit. Mit Licht.
Und ja, vielleicht trägst du Wunden.
Vielleicht welche, die religiöse Worte geschlagen haben.
Aber Wunden können heilen.
Sie müssen nicht verschwinden, um verwandelt zu werden.
Gott sagt: „Ich bin, der ich bin.“
Darum darfst du auch sagen: Ich bin, wer ich bin.
Nicht nur erlaubt – sondern bejaht.
Voll und ganz.
Gott ist kein harter Richter auf Wolke sieben.
Gott ist zärtlich. Barmherzig.
Gott bindet, was zerbrochen ist.
Gott sieht dich an – und lächelt. Nicht trotz deiner Queerness. Sondern inklusive.
Du bist eingeladen.
An Gottes Tisch. Zur Regenbogenfeier. Zum Leben.
Mit Brot, mit Wein, mit Würde.
Wenn du gerade kämpfst – du bist nicht allein.
Und wenn jemand das wieder „Sodomie-Fest“ nennt?
Dann lächeln wir mild, trinken einen Traubensaft,
heben den Kelch der Gnade –
und sagen:
Prost. Auf einen Gott, der grösser ist als euer Horizont.
Und auf eine Liebe, die keine Angst kennt.
Ari Lee
Vikarin OKE (Offene Kirche Elisabethen) Basel
Der Originaltext aus Aris Blog.
Nachtrag der Redaktion:
Ein Pastor enthüllt die „Gay PRIDE Agenda“ von John Pavlovitz.
Die Sünde hassen – den Sünder lieben? von Valeria Hinck und Manuela Bünger.
[1] Phyllis Trible, Texts of Terror (1984)
[2] James Brownson, Bible, Gender, Sexuality (2013)
[3] Dale B. Martin, Sex and the Single Savior (2006)