Schwule und Lesben in der Schweiz

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Neue Zürcher Zeitung INLAND Samstag, 26.06.1999 Nr. 145  16

Schwule und Lesben in der Schweiz

Schritte auf dem Weg zu Anerkennung und Selbstbewusstsein

Gleichgeschlechtliche Liebe ist so alt wie die Menschheit. In Teilen Europas wurde sie vontotalitären Regimen verfolgt und verteufelt, in Amerika ist sie christlichen Fundamentalisten ein Dorn im Auge. Vor 30 Jahren wurde in New Yorks Bar Stonewall die neue Schwulenbewegung gegründet. Der Name steht auch für eine Kulturstiftung in der Schweiz, die stets als liberal galt, was die Akzeptanz von Lebensstilen angeht, wo heute gleichgeschlechtliche Paare aber weniger Rechte haben als im übrigen Europa. Das soll sich bald ändern.

He. Gleichgeschlechtliche Liebe hat in manchen Kulturen der Vergangenheit wie der Gegenwart sowie in der schönen Literatur längst ihren Platz. Dass die andere Liebe auch einer Neigung durchschnittlicher Menschen entsprechen kann und gelebt sein will, schockierte die Mehrheit deshalb nicht minder. Mit Bibelzitaten wurde belegt, dass homosexuelle Liebe gegen die Natur sei. Totalitäre Regime witterten Dekadenz, nicht zuletzt deshalb, weil die Reproduktionsleistung der Ehe bei gleichgeschlechtlichen Paaren ausbleibt.

Neue Themen

Im Zusammenhang mit der Aids-Epidemie bekamen die Homosexuellenorganisationen weltweit neue Aufgaben, und viele wurden neu gegründet. Aus zahlreichen lokalen Vereinen gingen in der Schweiz Pink Cross (Schwule) und Lesben- Organisation Schweiz (LOS) hervor. Die LOS, 1989 als Verein gegründet, will «die Vielfalt lesbischer Frauen, ihrer Biographien und Lebensentwürfe in der Gesellschaft sichtbar» machen. Zusammen mit Pink Cross setzt sie sich für die Realisierung gleicher Rechte für gleichgeschlechtliche Paare ein und hat dafür gekämpft, dass in den Antidiskriminierungsartikel der neuen Bundesverfassung die Bestimmung aufgenommen wurde, dass niemand auf Grund seiner Lebensform benachteiligt werden darf. Die mit über 6000 Teilnehmern bisher grösste Kundgebung der Minderheit, der immerhin etwa 5 Prozent der Bevölkerung angehören, gab sich 1997 das Motto «Lesben und Schwule in guter Verfassung».

Info-Hotline und Internet-Auftritt sind für die verschiedenen Organisationen und Projekte eine Selbstverständlichkeit. Neben dem politischen Lobbying zeigt auch das 1996 gegründete Network für schwule Führungskräfte, wie die Schaffung von Organisationen die homosexuelle Emanzipationsbewegung stützt.

Vertreten sind die Lesben- und die Schwulenbewegung mit je einem Mitglied im 1996 geschaffenen Fonds für bedürftige Opfer des Holocaust. Überlebende der Nazi-Verfolgung werden dazu ermuntert, ihre Ansprüche einzufordern, was bisher in zwei Fällen mit Erfolg geschehen ist.

Kulturelle Manifestationen

Vor zehn Jahren wurde in Basel die Stiftung Stonewall gegründet, deren Name an den New Yorker Auftakt zur modernen amerikanischen Schwulenbewegung am 26. Juni 1969 erinnert. Die Stiftung unterstützt kulturelle und wirtschaftliche Projekte. Sie ermöglichte einen Reprint des 1836 erschienenen zweibändigen Werkes «Eros – die Männerliebe der Griechen, ihre Beziehungen zur Geschichte, Erziehung, Literatur und Gesetzgebung aller Zeiten» des Glarners Heinrich Hössli, von dem in der Schweiz noch ein einziges Exemplar aufzufinden war. Finanziert werden auch das Berner Filmfestival «Queersicht» und das Thurgauer Festival des schwulen Films sowie Theatergastspiele, Photoprojekte und Ausstellungen. So will man die in Berlin gezeigte – und von der Stiftung mit finanzierte – Retrospektive «Der Kreis» für Schweizer Städte übernehmen.

Die Basler Ausstellung «Männergeschichten» im Jahr 1988 hatte die Initialzündung zur Gründung der Stiftung Stonewall mit Sitz in Basel gegeben, deren – vorderhand bescheidenes – Kapital durch Spenden und Legate gespeist wird. Ein Stonewall Award wird in diesem Jahr zum drittenmal an ein Kulturprojekt vergeben.

Dokumentierte Emanzipationsbewegung

Seit 1993 werden Dokumente zur Geschichte der Homosexuellen in der Schweiz gesammelt und beim Zürcher Sozialarchiv, das als Partner des «Vereins Schwulenarchiv» gewonnen werden konnte, aufbewahrt. Nachlässe von Vereinen und von Einzelpersonen werden gesichtet und geordnet, Photoalben, Tagebücher, Briefwechsel sowie Flugblätter und Handzettel finden sich in der Sammlung. Raritäten wie das handschriftliche Protokollbuch der «Amicitia», der in Zürich nach Berliner Vorbild in den zwanziger Jahren gegründeten Schwulen- und Lesbenbewegung, sind hier deponiert (und nur in Kopie einzusehen). Dazu wird eine lückenlose Dokumentation von Zeitungsartikeln angelegt, die die letzten 15 Jahre umfasst. Das Schwulenarchiv wird im Sozialarchiv mit einer eigenen Signatur geführt und von Historikerinnen und Historikern bereits rege benutzt. Unter Datenschutz stehende Dokumente sind entsprechend gekennzeichnet und können nur mit Spezialgenehmigung eingesehen werden.

Im Hinblick auf die Möglichkeit, auch Kunstphotos und Bilder in das Archiv aufzunehmen, wird zurzeit die Gründung einer Stiftung erwogen. Neben dem Schwulenarchiv besteht eine Handbibliothek, die auch literarische Werke führt und die bei der Homosexuellen Arbeitsgruppe Zürich (HAZ) konsultiert werden kann.

Von der Toleranz zur Rechtsgleichheit

Kulturelles und historisches Interesse für die eigene Lebensweise genügen aber nicht. Im Zentrum der homosexuellen Emanzipationsbewegung stehen seit Jahren Bestrebungen für eine Besserstellung im Alltag. Schon im Zusammenhang mit Aids waren es Mitte der achtziger Jahre zuallererst Homosexuelle, die sich neben gesundheitlichen auch mit rechtlichen Fragen – etwa Arbeitsrecht und Mietrecht – befasst haben. Für viele hat die Bedrohung durch die Epidemie überhaupt erst zu einem Coming out geführt. Der schwule Lebensstil wurde öffentlich diskutiert und gewann durch diese Präsenz auch an Selbstverständlichkeit, wenngleich anderseits erneut Verunglimpfungen ausgelöst wurden.

1992 stand die Sexualstrafrechtsreform an, im Zuge deren es um eine Senkung des Schutzalters für Lesben und Schwule auf jenes für Heterosexuelle zu kämpfen galt. Als im März 1994 die Dachorganisationen der Schwulen und Lesben ihre Petition «Gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche Paare» einreichten, fanden sich unter den Erstunterzeichnern gegen 200 Persönlichkeiten aus Politik und Kultur. Die Liste der Diskriminierungen von Lebensgemeinschaften, die nicht auf einer traditionellen Ehe beruhen, ist noch immer lang.

Die Petition wurde dann 1996 in ein Postulat umgewandelt und an den Bundesrat weitergeleitet. Am 15. Juni 1999 gab das Justizdepartement endlich einen Bericht in die Vernehmlassung, in dem fünf Varianten von rechtlicher Besserstellung zur Diskussion gestellt werden (NZZ vom 16. 6.) von punktuellen Anpassungen im Ausländerrecht (homosexuelle Lebensgemeinschaften mit ausländischen Partnern werden durch die restriktive Erteilung der Aufenthaltsbewilligung stark beeinträchtigt), im Erb- und Versicherungsrecht über den Partnerschaftsvertrag (mit gegenseitiger Beistandspflicht und Miteigentum) bis zur Registrierung der Partnerschaft.

Mentalitätswandel

Vor der administrativ einfachsten Variante, der Öffnung des Instituts Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, die auch die Elternschaft durch Adoption oder unterstützte Fortpflanzung einschliessen würde, schrecken die Verfasser des Vernehmlassungspapiers aus Rücksicht auf das Empfinden vieler Bürgerinnen und Bürger noch immer zurück. Dass bei der repräsentativen Umfrage, die Pink Cross und LOS in diesem Mai veranlasst haben, sich nur mehr 21 Prozent der Schweizer Bevölkerung gegen eine registrierte Partnerschaft äussern und 53 Prozent eine eigentliche Heirat zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern befürworten, zeigt freilich einen beachtlichen Mentalitätswandel im Vergleich zu früheren Messungen an.

Zu den Manifestationen am heutigen Christopher Street Day in Erinnerung an die Gründung der Stonewall-Bewegung vor 30 Jahren werden in Zürich (Besammlung um 13.00 Uhr auf dem Helvetiaplatz) und Freiburg i. Ü. so oder so zahlreiche Teilnehmer erwartet.

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