Spitzerstudie, Amsterdam-Studie, etc. – was steht dort wirklich (nicht)?

Kürzlich erklärte sich die Bundesleitung der Freien Evangelischen Gemeinden für ihren Verband erneut zum Thema Homosexualität: in der Gemeinde darf man allenfalls homosexuell sein, aber nicht homosexuell leben (idea-Spektrum-Meldung dazu: «Homosexuelle sollen umkehren». Unter anderem berief man sich dabei auf die «Ergebnisse der Humanwissenschaften». Zitat: «Die neue «Spitzer-Studie»…, an der 200 hoch motivierte Personen mit dem Wunsch nach Veränderung teilnahmen, zeigt: Vor der therapeutischen Begleitung sehnten sich 78% (Männer) bzw. 81% (Frauen) erotisch-sexuell nach einem Menschen gleichen Geschlechts, nach der Therapie waren dies nur noch 8% … bzw. 4%».[1]

Mal wieder wurde hier – teils sicher aus Unkenntnis, aber teils sicher auch bewußt trotz Kenntnis – ein wissenschaftliches Ergebnis völlig verdreht, daran anknüpfend aber ein Grundsatzpapier verfaßt, das wieder für Jahre den Homosexuellen in den FEG’s verwehrt, das zu leben, was sie sind: homosexuell und Christ. Von daher will ich hier noch einmal in Kürze auf die leidige Studiendiskussion eingehen. (Ausführliches zur Spitzer-Studie bereits in «Wie allwissend ist Wissenschaft im Namen des Allmächtigen?»)

Keineswegs beobachtete Spitzer 200 Heilungswillige, die dann eine sensationelle Erfolgsquote aufwiesen, wie in konservativen Medien [2] gern der Anschein erweckt wird. Vielmehr überprüfte er bei einem «Elitetrupp» von 200 nach Selbsteinschätzung schon Geheilten/Veränderten den Erfolg – mit Ergebnissen, die gelinde formuliert, doch reichlich Fragezeichen hinterlassen.

Um einen Therapieerfolg festzustellen, darf man selbstverständlich nicht nur die erfolgreich Therapierten befragen, sondern alle oder eine repräsentative Anzahl solcher, die sich insgesamt einer Therapie unterziehen. Spitzer selbst behauptete selbstverständlich auch solches nicht, seine Studie entspricht ihrem Titel: «200 Personen, die beanspruchen, ihre sexuelle Orientierung von homosexuell nach heterosexuell geändert zu haben» [3].

Was hatte er gemacht? Er bat die US-amerikanischen Ex-Gay-Bewegungen darum, ihm bundesweit möglichst viele durch eine Therapie oder Seelsorge etc. «Geheilte» für ein telefonisches Interview unter Zusicherung der Datenanonymität zu vermitteln. Dies war für die Ex-Gay-Bewegung eine einmalige Chance, zu der wissenschaftlichen Anerkennung zu gelangen, für die sie jährlich auf der Tagung der Amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie demonstriert hatte. Es mußte einfach ihr höchstes Interesse sein, eine statistisch möglichst signifikante Zahl zu mobilisieren und Spitzer zur Verfügung zu stellen.

Nur um eine Vorstellung zu bekommen: Die USA hat etwa 290 Mio Einwohner. Selbst bei einem gering geschätzten Bevölkerungsanteil von 2% Homosexuellen sind das 5-6 Mio. Fast die Hälfte der Amerikaner behauptet von sich «born again» zu sein. Die Zahl von christlichen Homosexuellen, die Heilung sucht, dürfte also recht hoch sein. Es gibt -zig Ex-Gay-Organisationen in den USA, die alle hohe Heilungsquoten versprechen und Hunderten bis Tausenden geholfen haben wollen.

Aber: Spitzer hatte nach seiner Aussage «große Schwierigkeiten», innerhalb eines Zeitraums von immerhin 16 Monaten überhaupt Probanden zu finden. Was schließlich aus der ganzen USA zustande kam, waren gerade einmal 274 Personen, von denen 74 gleich herausfielen, weil sie die Eingangskriterien wie nachvollziehbare Veränderung oder Langzeitstabilität gar nicht erst erfüllten (Voraussetzung war, daß der Beginn einer Therapie mindesten 5 Jahre zurückliegen mußte).

Die verbleibenden 200 (143 Männer, 57 Frauen) dürften also das höchst motivierte «Fähnlein der Aufrechten» darstellen (gegenüber einer völlig offenen Anzahl Gescheiterter). Von diesen 200 hatte sich laut Spitzer «die große Mehrheit … öffentlich zugunsten von Veränderungsversuchen der homosexuellen Orientierung geäußert».

Betrachtet man die Ergebnisse seines 45 min langen Interviews zu Gedanken, Gefühlen, Lustempfinden, Verhalten vor und nach Therapie, so erheben sich vor allem 2 Fragen:

  1. Wie homosexuell waren die geheilten Homosexuellen eigentlich vor ihrer Therapie?
  2. Wie geheilt waren die geheilten Homosexuellen eigentlich nach ihrer Therapie?

Zu 1): «Ausschließlich» homosexuell waren nach Selbsteinschätzung der Teilnehmer vor Therapie ca 50%. Nach einer psychologischen Auswertung ihrer Antworten zu damaliger sexueller Attraktion; Phantasien, Wünschen, körperlichen Reaktionen vergab Spitzer die Bezeichnung «extrem homosexuell» aber nur an 23% der Männer und 9% der Frauen. Interessant, daß 12% der Frauen angaben, vorher seltener als «manchmal» homosexuelle Phantasien gehabt zu haben, und daß vor Therapie bei 22% der Männer und 19% der Frauen der Wunsch nach einer gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehung weniger als «selten pro Monat» bestanden hatte. (Es bleibt mir etwas rätselhaft, wieso manche dieser Teilnehmer sich überhaupt für homosexuell hielten.)

Zu 2): Die meisten Teilnehmer erfuhren eine Veränderung in Denken und Verhalten, die man in seinen Ergebnissen nachlesen kann. Aber dafür, daß sie eigentlich nach Selbstdarstellung die «Hundertprozentigen», nämlich die Selbstbewußtesten der erfolgreich Geheilten darstellten, lassen die Ergebnisse doch zu wünschen übrig.

«Ausschließlich heterosexuell» wurden nach Selbsteinschätzung anschließend nur 17% der Männer und 55% der Frauen, sicher auch ein zu hohes Ziel, obwohl die Versprechungen mancher Bewegungen sehr vollmundig zu sein pflegen. Aber auch lockerer gefaßt hatten immerhin 71% der männlichen und 37% der weiblichen «erfolgreich Veränderten» immer noch homosexuelle Merkmale, die oberhalb von «gelegentlich» oder «gering» lagen. Und fast die Hälfte aller Männer hatte nach wie vor homosexuelle Masturbationsphantasien in einer Häufigkeit, die über «manchmal» hinausging.

Die meist zitierte Zahl von 66% (bei Männern, 44% bei Frauen) bezieht sich auf die «gute heterosexuelle Funktion»: Mindestens ein Jahr befriedigender heterosexueller Partnerschaft mit mindestens einmal pro Monat (!) befriedigendem heterosexuellem Sex (ein zumindest diskussionswürdiges Kriterium für «good functioning»).

Die Ergebnisse repräsentieren einen punktuellen Stand der Personen, die sich laut Spitzer in einem shift (Verschiebung) auf einem sexuellen Kontinuum (von homosexuell nach heterosexuell) bewegt haben. Viele hatten diesen shift zur Basis einer Eheschließung gemacht. Es ist diesen Eheleuten nur zu wünschen (ich bin da freilich skeptisch!), daß nicht 5 weitere Jahre später der shift sich längst wieder in eine andere Richtung bewegt hat (wie es viele von uns, die solche Änderungsversuche durchgemacht haben, schließlich erlebten).

Signifikant besserten sich «erhebliche» Depressionen (43 bzw. 47% vorher und 1 bzw. 4 % nachher). Allerdings waren fast alle Teilnehmer in einer christlichen oder jüdischen Glaubensgemeinschaft stark eingebunden und nahezu 80% hatten den religiösen Konflikt als Motiv für die Therapie genannt. Von daher erklärt sich die Depressivität eben nicht unbedingt als Begleiterscheinung von Homosexualität per se, sondern eher aus dem Druck, unter dem die Betreffenden standen.

Spitzer äußerte bei der Vorstellung der Studie seine Skepsis, daß selbst der relative Grad der Veränderung der von ihm Befragten auch vom Durchschnitt der Hilfesuchenden erreichbar wäre. Seine Schätzung einer generellen Erfolgsquote lag bei 3% [4]. Er war auch «alarmiert» über den Mißbrauch mit den Ergebnissen seiner Studie im Sinne einer Einforderung von Heilung [5]. Er betonte anschließend: «Ich möchte klarstellen, daß ich homosexuelle Ehen und Adoption… unterstütze» [6].

Also noch einmal: die Spitzerstudie spricht nicht von einer Heilungsquote, sondern zeigt auf, wie (für meine Begriffe) ausgesprochen relativ der Erfolg selbst bei der Crème de la Crème ist.

Vielleicht ein hilfreiches Beispiel: Es kommt das Medikament X auf den Markt, das bei Impotenz helfen soll. Die Herstellerfirma nennt sie «die Pille mit Steifheitsgarantie». Ungezählte Männer mit Erektionsstörung nehmen die Tablette in der Hoffnung auf Abhilfe. Über Inserate werden Personen gesucht, die wieder «ganze Kerle» geworden sind. Es melden sich 274 Männer, von denen 74 herausfallen, weil sie nach wie vor keine vollständigen Erektionen haben. Die restlichen 200 geben an, in 66 % der Tabletteneinnahmen zu einer Erektion zu kommen.

Was können wir daraus schließen? 1) Die Tablette hat eine Wirkung. 2) Die Tablette wirkt selbst bei den subjektiv Erfolgreichen nur begrenzt. Niemand weiß, wie viele sie ohne Wirkung genommen haben. Niemand weiß, wie viele sie eingenommen haben, und Nebenwirkungen oder bleibende Schäden davon trugen. Waren die 200 die Erfolgreichen und haben das Medikament aber noch 800 weitere Personen (also insgesamt 1000) genommen, entspräche die 66%-Erfolgsquote nur noch (mindestens) 13 %, bei 10’000 Personen (mindestens) 1,3%, usw. Natürlich ist diese Art Rechnung problematisch, sie soll nur deutlich machen, wie schnell ein nur an Erfolgreichen erhobenes Ergebnis an Bedeutung verlieren kann.

Ich persönlich bin es langsam müde, all den Studien hinterher zu lesen, die angeblich die Krankhaftigkeit der Homosexualität, die Minderwertigkeit ihrer Beziehungen oder die selbstverständlich mögliche Heilung propagieren. Wo ich das tat, bin ich allzu oft auf allzu groteske Wissenschaftsklitterung, sei es in der Erhebung der Daten oder ihrer Interpretation – gestoßen.

3 Beispiele:

1) Die peinlichen Ergebnisse der Dreikorn-Studie der amerikanischen Gruppe NARTH [7], die alle dort therapierten Homosexuellen einschließen sollte und schließlich mit einer 73%igen Veränderungsrate an 15(!) Personen aufwartete, kann man in «Wie allwissend ist Wissenschaft …?» nachlesen.

2) Lobend erwähnt für seine umfangreiche Datensammlung wird in einem Artikel zur homosexuellen (UN)elternschaft [8] ein Mann namens Cameron. Forscht man diesem Namen hinterher, stößt man auf eine geradezu krankhaft antihomosexuelle Rhetorik. Dabei fand ich aus Camerons Feder eine «Untersuchung» (ausgestattet mit Statistiken und Diagrammen), in der er «bewies», daß adoptierte Kinder von homosexuellen Elternpaaren weit häufiger mißbraucht werden als von heterosexuellen. Seine Datengewinnung – man höre und staune – bestand darin, daß er per Computer die weltweite Sensationspresse durchforstete und die Anzahl der Artikel zu homosexuellem und heterosexuellem Mißbrauch in Relation gesetzt hatte…! [9]

3) Allerorten wird in konservativen Medien [10] als Beweismittel die Amsterdam-Studie angeführt, die aufgezeigt habe, daß schwule Partnerschaften durchschnittlich nur 1,5 Jahre hielten, wobei in dieser Zeit noch Sexualkontakt zu 12 weiteren Männern bestünde. Dabei sagt dieses Nebenergebnis der Studie überhaupt nichts zum Treueverhalten homosexueller Männer überhaupt. Vielmehr handelte es sich um eine medizinische Studie der AIDS-Forschung zur Auswirkung des Risikoverhaltens. Sie bezieht ihr Daten-Material aus der Amsterdam Cohort Study, in der im wesentlichen selektiv Homosexuelle erfaßt wurden, die ausdrücklich Partnerwechsel betrieben oder bereits HIV-infiziert waren [11]. Sexuelle Promiskuität war also nicht das Ergebnis dieser Studie, sondern das eigentliche Einschlußkriterium!

Die Prämisse, Homosexualität müsse von der Bibel her falsch sein, ist so stark, daß mit aller Macht der wissenschaftliche Nachweis gesucht wird. Allzu oft wird dabei bestenfalls selektiv wahrgenommen und schlimmstenfalls auch kurzerhand ein wissenschaftliches Ergebnis völlig verbogen. Um der «höheren Wahrheit» willen wird es mit der konkreten Wahrheit im Umgang mit Daten nicht immer so genau genommen. Aber ich fürchte, wir könnten noch so viele Argumente aufführen und doch auf taube Ohren stoßen. Man will eben, daß Homosexualität sich als krankhaft erweise.

Mich erschüttert, mit welcher Lust, welchem Aufwand und welchem Eifer von Christen negatives Datenmaterial über eine Menschengruppe aus allen möglichen Publikationen aufgespürt und aufgehäuft wird. Kein Hauch einer Frage, warum homosexuelle Partnerschaften es vielleicht tatsächlich schwerer haben, auf Dauer zu bestehen. Selbst dort, wo es inzwischen staatliche und beginnende gesellschaftliche Anerkennung gibt, haben Homosexuelle gerade in den Gruppen, die dauerhafte Beziehungen am meisten unterstützen, den schwersten Stand. Bei den meisten Paaren, die ich kenne, steht zumindest ein Elternteil der Beziehung massiv ablehnend gegenüber. Viele müssen ihre Partnerschaft heimlich leben.

Kein Hauch einer Selbstkritik, ob die Ausgrenzung Homosexueller nicht ihren Anteil daran hat, wenn viele sich ihre Heimat bewußt in möglichst anti-bürgerlichen Kreisen suchten, wo eine explizit freie Einstellung zur Sexualität besteht. Kein Hauch einer Frage, ob gerade Homosexuelle aus christlichen Gemeinden erst gar nicht in den sog. «homosexuellen Lebensstil» abtauchen würden, wenn sie die Möglichkeit zu einer geachteten Partnerschaft hätten. Nicht der Hauch einer Frage, was denn wäre, wenn man homosexuelle Partnerschaften mit all den Selbstverständlichkeiten unterstützen würde, die Eheleute gerade unter Christen geniessen.

Ich kann nur bei Einrichtungen wie dem Deutschen Institut für Jugend und Gesellschaft der Offensive Junger Christen an das christliche Gewissen appellieren, sich doch auch in dieser Frage wieder der Wahrheit und der Liebe zu verpflichten – denn dort werden die meisten Daten einer eifrig lauschenden Laienschaft aufbereitet, die sie dann kritiklos weiterträgt.

Ein wahrhaftiger und differenzierter Umgang mit Daten ist gefragt. Sonst müsste man ja aus der statistischen Meldung, dass die Scheidungsraten unter Christen in den USA die in der «Normalbevölkerung» überstiegen [12], fraglos schliessen, der Glaube an Gott sei schädlich für die Ehe – zumindest in «God’s own country».

Dr. V. Hinck

Die Autorin ist Ärztin, Teamfrau in der Leitung von «Zwischenraum» und Buchautorin. Von ihr stammt «Streitfall Liebe, Biblische Plädoyers wider die Ausgrenzung homosexueller Menschen».

©Zwischenraum.net


[1] Berichtsheft 2004, Bundestag 18.9.2004, Anlage 2 «Homosexualität im Spannungsfeld von Gesellschaft und Gemeinde», S. 104

[2] Auf der Homepage der PBC spricht man z.B. von «Therapieerfolgsquote» (http://www.pbc.de/themen/Themen.htm)

[3] 200 Subjects Who Claim to Have Changed Their Sexual Orientation from Homosexual to Heterosexual». Den Text der Studie hat OJC in deutscher Übersetzung ins Netz gestellt (http://www.ojc.de/dijg/index.php?art_id=31&categ=7&expand=7&file=view_article.tp)

[4]Doug Nave, «Organizations of US Mental Health Professionals are unanimous» (http://www.covenantnetwork.org/resources&statements/reparative.htm)

[5] ibd.

[6] In einem Interview (www.advocate.com/html/stories/840/840_Spitzer.asp)

[7] National Association of Research and Therapy of Homosexuality

[8] Christl R. Vonholdt, Homosexuelle ‹Elternschaft› hat keine Zukunft (http://www.ojc.de/dijg/index.php?art_id=67&categ=5&expand=5&file=view_article.tp)

[9] Paul Cameron, Gay Foster Parents More Apt to Molest, 2002 (http://www.familyresearchinst.org/FRR_02_11.html)

[10] Z.B. Homepage der PBC (http://www.pbc.de/themen/Themen.htm), der OJC (http://www.ojc.de/dijg/index.php?art_id=61&categ=7&file=view_article.tp)

[11] Overview over the Amsterdam Cohort Studies among homosexual men and drug users, 2003 (http://www.amsterdamcohortstudies.org)

[12] Jim Killam, Don’t Believe the Divorce Statistics (http://www.christianitytoday.com/mp/7m2/7m2046.html)