Von Gerechtigkeit und der Fülle des Lebens

«Lust an der Liebe»

Der Gott, von dem es beim Propheten Hosea heisst, dass er «Lust an der Liebe» habe (Hos 6, 6), ist ein Gott mit der Option für das Leben, die Liebe, die Gerechtigkeit. Das Evangelium erzählt zuerst und zuletzt von der «Erwählung der Schwachen» und der Selbstidentifikation des menschenfreundlichen Gottes (vgl. Tit 3, 4) in Jesus Christus mit den gesellschaftlich und religiös diskriminierten und an den Rand gedrängten Menschen.

Das Evangelium von der «Fülle des Lebens» zielt auf menschliche Beziehungen, in denen gilt: Keine Herrschaft des einen über den anderen, gemeinsamer Besitz an Lebensmöglichkeiten und geteilte Hoffnung auf ein Leben in Gerechtigkeit für alle, eine Verheissung und Sprache, die alle einschliesst und von allen verstanden wird.

Gegen alle Verzerrungen und Entfremdungen, Verletzungen und Beschädigungen, die unserem Leben angetan werden, will das Evangelium Menschen zur Gerechtigkeit befreien und herausfordern. Es will heilen, was verwundet ist, und ist widerständig gegenüber der Wirkung eines autoritären Religionsverständnisses und Gottesbildes (vgl. zum Beispiel Tilmann Moser: «Gottesvergiftung»), das Menschen einschüchtert und erdrückt. mundtot und «klein» macht. Das Evangelium erzählt von einem Gott, der die Kommunikation der verschiedenen Sprachen und Lebenskulturen ermöglichen will. Es widerspricht den menschlichen Unterscheidungen in Mehrheiten und Minderheiten, indem es die Vielfalt der Lebensmöglichkeiten und Lebensformen respektiert. Es entlarvt die Masken der Macht.

All dies ist gerade im Blick auf die fundamentalistischen Tendenzen in den Kirchen zu sagen, die das Evangelium zur Ideologie der Uniformität und der Macht pervertieren und «Bibelverse als Schlagstöcke» gegen die Sehnsucht der Menschen nach einem «Leben in Fülle» benutzen. Die fundamentalistischen Gruppen reduzieren und verbiegen das Evangelium von der Fülle des Lebens, der Liebe und Gerechtigkeit zur «kleingläubigen» Moral in Frage der Sexualität, des Ehe- und Familienlebens, während Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft ethikfrei (das heisst blind gegenüber der Wahrheit des Evangeliums) betrachtet werden; was immer sie produzieren: ökologische Verwüstung, rassistische und sexistische Diskriminierung, soziales Elend und anderes.

Mehrheiten und Minderheiten

Homosexuelle Frauen und Männer werden hartnäckig – mit mehr oder weniger Toleranz – als sogenannte «Minderheit» bezeichnet, als sogenannte «Randgruppe». Bereits ein Blick in die Statistik widerlegt diese Aussage. Ca. 10% der Bevölkerung sind homosexuell, weitere 10 – 15% bisexuell. Aber schon diese Etikettierungen «homosexuell» und «bisexuell» sind falsch und zynisch, weil sie irreführend die Lebenskultur und die Persönlichkeit lesbischer Frauen und schwuler Männer auf das Sexuelle reduzieren. Zur «Minderheit» wird frau/man gesellschaftlich, kulturell und religiös gemacht. Homosexuelle Frauen und Männer werden bis heute mit mehr oder weniger alltäglicher Gewalt ausgegrenzt und diskriminiert, im besten Fall nicht wahrgenommen. Sie wurden und werden für krank erklärt, unterdrückt, verfolgt und – durch subtile Mechanismen psychisch, sozial und kulturell – am Leben bedroht.

Der lateinamerikanische Kirchenvater der «Theologie und Kirche der Befreiung» Gustavo Gutierrez beschreibt, was es heisst, die Lebenskultur eines einzelnen Menschen oder einer Menschengruppe zu zerstören: «Wenn eine Kultur nicht respektiert wird, dann töten wir die Menschen, die zu dieser Kultur gehören. Dies ist kein physischer Tod aber eine Kultur zu zerstören ist eine bestimmte Art, Menschen umzubringen. Wenn wir zum Beispiel den Frauen nicht ihre volle menschliche Würde zuerkennen, dann töten wir sie.»

Dieser Gedanke im Zusammenhang des Lebens lesbischer Frauen und schwuler Männer gedacht heisst: Wenn wir die Lebenskultur homosexueller Menschen ausgrenzen, gesellschaftlich tabuisieren, nicht wahrnehmen oder zerstören, dann töten wir ihr Leben, psychisch, kulturell, sozial. Immer wieder führt dies auch zum physischen Tod. Junge Frauen und Männer, die ihre Homosexualität entdecken, begehen Selbsttötung, weil ihr Leben, ihre wachsende Persönlichkeit beschädigt, behindert und zerstört wird, weil sie auf Unverständnis, Ablehnung und Spott bei ihren nächsten Menschen stossen, bei Eltern, Freundinnen und Kolleginnen. Die sogenannte Minderheit leidet an der Mehrheit, an ihrem Unverstand, an ihrer Rechthaberei, an ihren Ängsten, an ihrer «normalen» Mentalität, die Anderssein nur schwer erträgt.

Wachsam für die Fülle des Lebens

«Nur wer sich selbst entfaltet, kann Gutes bewirken» – lautet ein buddhistisches Sprichwort. Für die Wachsamkeit für die Vielfalt des eigenen Lebens und das der anderen plädiert auch der grosse Mystiker der Gottesliebe Meister Eckhard: Nimm dein Selbes wahr. Nimm dein Eigenes wahr, mach etwas aus dir, aber nicht, indem du in das Äussere deiner selbst flüchtest, sondern indem du dich gleichsam mit allen Zimmern, mit allen Etagen, mit allen Räumen, die du bist, bewohnbar machst, nicht länger, gleichsam vor der Tür deines eigenen Hauses herumgehst. Wage es, dich derart wichtig genommen zu glauben, dass du die ungelebten, die bestenfalls erträumten oder nur in der Gestalt des Leidens und der Angst präsenten Lebens- und Hoffnungskräfte gestaltest und wahrnimmst, und – das ist der zweite entscheidende Gedanke Eckhards –  nur in dem Masse du das tust. deine Seele, deine gestaltete Innerlichkeit wichtig nimmst, nur in dem Masse kannst du auch liebesfähig, beziehungsfähig, sozial und lebensfähig werden. Dies gilt im Blick auf den zwischenmenschlichen Nahbereich, dies gilt im Blick auf gesellschaftliche Fragen und Herausforderungen. Der mystischen Tradition ist selbstverständlich, dass all dies die erste Voraussetzung zu einer Liebe ist, die Gerechtigkeit «nach innen» ermöglicht, gegenüber dem eigenen Leben, der geliebten Frau, dem geliebten Mann, den Kindern, und „nach aussen“, gegenüber verletzten, unterdrückten, vergewaltigten, als nutzlos diffamierten, marginalisierten und vernichteten Menschen der Gesellschaft.

Die Gedanken von Meister Eckhard verdeutlichen, dass das menschliche Leben in all seinen Möglichkeiten entfaltet werden muss. Der Mensch ist ein nicht feststellbares Wesen, das Wesen Mensch ist nicht uniform. Das menschliche Leben kann so und anders gelebt werden. Die Mehrheit fügt sich «in der Regel» Rollen, die gesellschaftlich übermächtig sind, Indem die Mehrheit sich fügt, kann es passieren, dass sie die unsensible Macht stärkt, die Macht des Undifferenzierten, die Gewalt der Eindeutigkeiten, die Macht des Typischen und einer klotzigen Normalität. Die Minderheiten, gerade die «geschlechtlichen Minderheiten, wenn sie sich nicht assimilieren und verstecken, leben wie Grenzgänger; sie überschreiten Grenzen der «Konventionen des Fleisches», sie demonstrieren für das nicht feststellbare Wesen eines freien Menschseins. (Die Autoren hüten sich, dies zu idealisieren.)

Homosexualität ist nicht «heilbar», oder: «Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut»

Homosexualität ist weder eine physische noch psychische Krankheit,‘ das hat die WHO (World Health Organisation) bereits in den 70er Jahren festgestellt. Homosexualität ist auch keine Ausdrucksweise einer tieferliegenden psychischen Persönlichkeitsstörung. Deshalb sind bereits die folgenden Fragen falsch und menschenverachtend: «Kann man aus homosexuellen Menschen heterosexuelle «machen»?», «Sind Lesben und Schwule «heilbar»?», u.a. Diese Fragen zeigen allein die mangelhafte Information, das defizitäre Wissen über homosexuelle Lebenswirklichkeiten. Und sie zeigen, wie stark die Tabuisierung der Homosexualität bis heute wirkt.

Gegen das Leben homosexueller Frauen und Männer werden von religiösen Kreisen immer wieder diverse Bibeltexte zitiert, die auf den ersten Blick scheinbar gegen Homosexualität sprechen. Exegetisch eindeutig ist aber, dass diese Bibelstellen Gewalt, Unterdrückung, Abhängigkeit und sexuelle Gewalt kritisieren und anprangern. In der Bibel ist weder ein Plädoyer gegen noch für die homosexuelle Liebe und Lebensgemeinschaft erkennbar. Die Bibel kennt keine Homosexualität im heutigen Verständnis, als eine die ganze Personalität des Menschen bestimmende Grösse. Was aber in der Bibel eindeutig ist, ist das Bekenntnis Gottes zu seiner Schöpfung: «Gott sah alles, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.»

Für die Kirchen heisst dies eindeutig mindestens, dass sie zu akzeptieren und zu respektieren haben, was immer an Wahrheit und besonderer Lebensmöglichkeit in der Seele eines Menschen lebt. Zudem gilt selbstverständlich gerade auch gegenüber den in ihrer gesellschaftlich und kulturellen Akzeptanz «schwachen» homosexuellen Frauen und Männern: «Dem Schwachen und Armen verhalf er zum Recht. Heisst nicht das, mich wirklich erkennen» (Jer 22, 16). Aber dies nicht in der Gebärde einer falschen «patriarchalen Barmherzigkeit», sondern im Respekt vor der Vielfalt, Farbigkeit und Unterschiedlichkeit im Leben homosexueller Frauen und Männer.

«Immer mehr dem Menschen ähnlich werden, als der wir gemeint waren» oder: Verlernen, was stumm macht!

Die Tagungen für homosexuelle Frauen und Männer, die seit vielen Jahren in gemeinsamer Trägerschaft von Boldern und der Paulus-Akademie durchgeführt werden, orientieren sich an dem, was Dorothee Sölle als die wichtigste Funktion des Betens bezeichnete: «Immer mehr dem Menschen ähnlich werden, als der wir gemeint waren.» Dieser Satz formuliert zugleich die grosse Lebenssehnsucht und «lebenslängliche» Suche nach der eigenen persönlichen Identität. In diesem Verständnis wird an den Tagungen für homosexuelle Frauen und Männer viel «gebetet». Dort soll im intensiven Gespräch mit anderen verlernt (!) werden, was stumm macht, unterdrückt hält und dem eigenen Leben sowie dem anderer Frauen und Männer Gewalt antut. Für die lesbischen Frauen und schwulen Männer, aber zunehmend auch für Eltern, Angehörige und FreundInnen homosexueller Menschen sind die Tagungen ein lebenswichtiger Ort des Gesprächs und der Begegnung. Solange Homosexuelle weiterhin –  mit all den subtilen Formen und Mechanismen der Gewalt und Diskriminierung – bei der Entfaltung ihrer Lebensmöglichkeiten, ihrer Kultur behindert werden, sind diese Tagungen wichtig und entsprechen dem Evangelium, das allen Menschen Gerechtigkeit und ein «Leben in Fülle» verheisst.

Matthias Mettner / Walter Pfister erschienen im «Boldern Bericht» Nr. 81, Dezember 1991