Nachdenken über Geschlechter

Leonhards-Club, 24. Oktober 2022: Gendern, nur Sprache, oder gibt es mehr als Adam und Eva? 

Die folgenden Ausführungen waren zuerst als Handout für einen Gesprächsabend gedacht. Vielleicht könnte man Geschlechter als fliessend oder als Spektrum sehen.

Die meisten von uns sind in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der es nur Männer und Frauen gab, wobei letztere politisch kaum etwas zu sagen hatten. Die Geschlechter waren festgelegt. Man munkelte, dass es Zwitter oder Hermaphroditen gäbe und Menschen, die — oh Schreck und Graus — in einem anderen Geschlecht lebten, als in ihren Ausweispapieren stand. In (amtlichen) Verlautbarungen galt das generische Maskulinum: Die männliche Form galt auch für Frauen.

Seit 1971 haben wir das Frauenstimmrecht, seit 1988 ein moderneres Eherecht.

Da kamen dann die Fragen auf, ob das rein männliche grammatikalische Geschlecht noch in unsere Gesellschaft passt. Die WoZ brachte am 11. September 1987 eine Nummer in rein weiblicher Form heraus (Die Einwohnerinnen von Griechinnenland …) welcher Aufstand auch in der linken Szene!

Danach entstanden Formen mit dem Binnen-I wie PolitikerInnen, PolizistInnen VerkäuferInnen. Es wurde wie üblich geschimpft, aber viel passierte nicht.

Und dann geschah das Ungeheure: Homosexuelle eroberten sich ihren Platz in der Gesellschaft und wurden sichtbar. Und jetzt musste man sich eingestehen, dass das rein binäre Menschenbild nicht mehr zu halten war: Neben «männlich» und «weiblich» führte Deutschland ein drittes Geschlecht «divers» ein, gedacht für Intersexuelle, denen man bei der Geburt kein eindeutiges Geschlecht zuweisen konnte.

Menschen wurden sichtbar, die mit dem zugewiesenen Geschlecht nicht mehr leben konnten oder wollten. Es gibt «nicht-binäre» Menschen, die sich in beiden Geschlechtern nicht finden können.

Es gibt nun eine Sprachvariante, das Gendern. Damit versucht man eine sehr geschlechts-differenzierten Sprache zu öffnen. Gendersternchen, Gendergap wollen ein Sprachbild etwas aufmischen: Politiker*innen, Polizist:innen und Verkäufer_innen.

Dazu kommt noch die Variante «Lernende» (statt Lehrlinge und Lehrtöchter) «Anwesende», «AdA» (Angehörige der Armee).

Oder «geschätzte Damen bis Herren».

Die Idee ist, bei der Aussprache dieser Wörter eine kleine Pause zu machen. Jetzt ist ein Orkan losgegangen, man redet von «Sprachverhunzung» tobt gegen «Genderwahn» schimpft auf Transidente.

Was wir uns klar werden müssen, ist, dass kaum ein literarisches Werk gezwungen wird, «gendergerecht» daherzukommen, kein Mensch muss sein Geschlecht wechseln, aber darf das tun.

Begriffe

TransPerson mit anderem Geschlecht als bei der Geburt zugewiesen
CisPerson mit gleichem Geschlecht, das bei der Geburt zugewiesenen wurde
Transident,
Transgender
heutiger Begriff statt transsexuell
Nichtbinärausserhalb des Schemas männlich – weiblich
Sexenglischer Begriff für das physiologische Geschlecht (male – female)
Gender englischer Begriff für das soziale und das empfundene Geschlecht;   manche soziale Medien bieten bis zu 100 Geschlechtern an …


Intersexualität Varianten

Genetisch

XXFrau
XYMann
X0Turner Syndrom (weiblich, meistens unfruchtbar)
XXY oder XXYY Klinefelter Syndrom (eher männlich)
XYYmännlich(?)
XXXTriple X, weiblich(?)

Fehlentwicklungen während der Schwangerschaft

Androgenresistenz scheinbar weiblich, männlich in der Pubertät (XY-Frauen)
MRKHMayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom (nur bei Frauen)
Siehe auch «Körperlich-sexuelle Fehlentwicklungen» von John Money (Rowohlt 1969)

Bis vor wenigen Jahren (teilweise immer noch) wurden intersexuelle Kinder chirurgisch «angepasst», teilweise ohne Einverständnis der Eltern, manchmal mit katastrophalen Folgen, die bis zum Suizid führten.

Transidentität

Nicht alle Varianten der Sexualität sind bis in alle Einzelheiten erforscht. Vermutlich müssen wir annehmen, dass unser Geschlechtsempfinden mehrere Varianten kennt:

Genital, physiologisch «Sex» Was wir im Spiegel und bei Berührung wahrnehmen
Psychologisch, Kopfgeschlecht«Gender» wie wir uns selber wahrnehmen, wie wir das Gegenüber «lesen»
HormonellVerhältnis männlicher zu weiblichen Hormonen
Attraktion«hetero», «homo», was uns anspricht.

Bei den meisten Menschen stimmen «Sex» und «Gender» überein (Cis).

Es gibt aber Menschen, bei denen «Sex» und «Gender» nicht übereinstimmen, man redet dann von «transident». Allerdings gibt es politische und religiöse Gemeinschaften, die die Existent transidenter Menschen teilweise vehement bestreiten.

«Genderfluid» bezeichnet Menschen, deren Geschlechtsidentität fliessend ist.

Es gibt in der Schweiz seit Anfang 2022 die Möglichkeit, seinen Geschlechtseintrag im Zivilstandsregister zu ändern, allerdings nur binär.

Bis zum 19. März 2023 fand im Naturhistorischen Museum in Bern die Sonderausstellung «Queer – Vielfalt ist unsere Natur» statt.