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Dave Jäggi
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Im August 2019 empfahl der Schweizerische Evangelische Kirchenbund SEK die Möglichkeit zur Trauung für gleichgeschlechtliche Paare. Am 04. November 2019 wird die Abgeordnetenversammlung über die Empfehlung entscheiden.
Seit einigen Tagen gehen die Wogen in den Mitgliedskirchen hoch. Pfarrpersonen, welche die Empfehlung des SEK aufgrund ihres Schriftverständnisses ablehnen, haben eine Erklärung unterzeichnet (siehe auch SRF Beitrag hier). Darauf reagierten befürwortende Pfarrpersonen ebenfalls mit einer UnterzeichnerInnen-Liste. Auf der «bibeltreuen» Seite wird Andersdenkenden der Glaube abgesprochen. Die Seite der BefürworterInnen spricht von «Verwerfung der falschen Lehre…» im Duktus der Barmer-Theologischen Erklärung. Aussagen in den Kommentarspalten sozialer Medien lassen zu weiten Teilen wenig Gesprächsbereitschaft erkennen (es gibt rühmliche Ausnahmen, welche die Regel bestätigen!). Das sexualethische Thema gleichgeschlechtlicher Liebe hat nun auch in den reformierten Kirchen anscheinend den Status eines Bekenntnisses erlangt, während dies in Freikirchen schon seit einiger Zeit der Fall ist.
In diese hitzige Debatte brachte sich nun Jörg Frey, Professor für neutestamentliche Wissenschaft an der UZH, ein. Seine 10 Thesen in sachlichem, theologisch reflektiertem und versöhnlichem Ton, mahnen beide Seiten zur Vernunft, wobei seine eigene klare Haltung gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe trotzdem deutlich wird. Im Folgenden werden Frey’s Thesen mit freundlicher Genehmigung unverändert aufgeführt:
10 Thesen zur derzeitigen Diskussion um „Ehe für alle“ bzw. Segnung schwuler und lesbischer Paare im Rahmen der reformierten Kirchen der Schweiz
These 1
In der derzeitigen Diskussion stehen auf beiden Seiten ernsthaft ringende Menschen. Vorschnelle Verurteilungen, hin oder her, sind in jedem Fall unangemessen. Wo vereinfachend und verurteilend argumentiert wird (im Stil von „kann den Liebe Sünde sein?“ oder im Stil von „die Bibel sagt aber“) wird man der Ernsthaftigkeit des Nachdenkens auf der anderen Seite nicht gerecht.
Kirchenpolitischer Populismus bringt die Kirche im Ganzen bei den Menschen eher in Misskredit. Weder „Liberale“ noch „Konservative“ können damit punkten. Vielmehr wird allen geschadet. Eine ehrliche und ernsthafte Diskussion muss gerade die mitnehmen und zu gewinnen versuchen, die mit der einen oder anderen Position Mühe haben. In diesem Sinne versuche ich, einige Defizite in der Diskussion und einige Argumente zu formulieren.
These 2
In der derzeitigen Diskussion entsteht der Eindruck, als sei die Frage der „Homo-Ehe“ ein zentraler Punkt christlichen Denkens. Das war sie nie und ist sie nicht. Fundamental und zentral ist das Evangelium, die Botschaft von Christus, dem Gekreuzigten, der unsere Rettung ist. Alles andere ist dem unter– und eingeordnet. Wenn wir im Bekenntnis zu diesem Evangelium übereinstimmen, sind auch in vielen anderen Fragen unterschiedliche Positionen zu ertragen. Die evangelische Kirche als Volkskirche muss das Nebeneinander von unterschiedlichen Frömmigkeitsstilen, theologischen und ethischen Positionen aushalten. Das unterscheidet sie gerade von Freikirchen und Vereinen, in denen mit mehr oder weniger Druck (und manchmal auch großer Unbarmherzigkeit) nur eine Haltung, nur ein Stil geduldet wird und Abweichungen keinen Platz haben.
These 3
Richtig ist, dass für eine evangelische Kirche die Heilige Schrift Maß und Norm der Lehre und Lebensführung sein soll. Freilich ist das Verständnis der Schrift an vielen Stellen strittig, und es bedarf dazu Sachverstand und Kompetenz. Einfache, flache Übertragungen alt– oder neutestamentlicher Worte auf die heutige Situation und deren gesetzliche Anwendung sind ebenso unangemessen wie ein schnelles „Vom-Tisch-Wischen“ nach dem Motto „das kann man ja heute nicht mehr…“. Die Schrift ist vielmehr grundsätzlich in ihrem historischen Kontext zu lesen, und das heisst auch kritisch. Wer das nicht tut, macht es sich zu leicht und betrügt sich selbst (und evtl. auch andere). Zugleich muss unsere Lektüre auch selbstkritisch erfolgen, im Wissen um die Gefahr (der wir alle ausgesetzt sind), dass wir nur zu gerne unsere eigenen Vorurteile und Wünsche in die Bibel hineinlesen.
These 4
Fragen der Lebensführung, der Ethik, hier konkret der Sexualethik werden von bestimmten evangelikalen Kreisen zum Zentrum der eigenen Identität (und der Sündenlehre) gemacht. Da scheint sich alles um Sex zu drehen, als der Umgang damit das allererste Thema. Doch selbst in der neutestamentlichen Rede von Sünde und Sünden (z.B. in den Lasterkatalogen) sind sexuelle Sünden nicht mehr betont als z.B. soziale oder ökonomische. Hass, Gier, Geiz und Lebenslügen sind nicht weniger „schlimm“ als Ehebruch, Unkeuschheit etc. Warum hört man aber aus der konservativen Ecke nicht ebenso laut Protest, wo es um Fragen von Gerechtigkeit geht, wo Menschen unter schädigenden Folgen von wirtschaftlichen Praktiken zugrunde gehen? Sollte Gott sich nur um den Koitus kümmern, sollten ihm Konsum und Mammons-Dienst gleichgültig sein? Das ist eine unbiblische Schwerpunktverschiebung und eine Verdunkelung des Evangeliums.
These 5
Die Meinung, es gäbe ein spezifische biblische Eheverständnis, lässt sich bei näherem Hinsehen nicht aufrecht erhalten. In der Bibel (AT und NT) finden sich durch die Zeiten eine Vielzahl unterschiedlicher Familienstrukturen, von der Mehrfrauenehe bei den Patriarchen über Sippen und Grossfamilien, bis hin zu prekären Verbünden von Menschen, die einfach zum Überleben zusammenhalten mussten. Dass dabei die Fragen der „Sexualpraxis“ nur selten angesprochen werden, zeigt, dass diese nicht vorrangig im Blickfeld war. Gleichermaßen redet die Bibel zwar von Freundschaften unter Männern (zB David und Jonathan), über die viel spekuliert wird, aber eine positive Erwähnung eines sexuellen Verhältnisses lässt sich daraus (so sehr es manche wünschten) nicht gewinnen.
Ehen wurden im biblichen Israel oft von den Eltern/Vätern arrangiert, Frauen galten weithin als „Besitz“ des Mannes (des Vaters oder des Ehemannes). Bei der Heirat waren Frauen oft noch minderjährige Mädchen (und man kann sich fragen, ob man heute von Zwangsehen, Kinderehen, ja Kinderschändung reden müsste). Ehen dauerten oft nur kurz, bei früher Sterblichkeit v.a. von Frauen. Kinder wuchsen in sehr unterschiedlichen Lebenskontexten auf, bei leiblichen Eltern oder zweiten Müttern, bei weiteren Verwandten oder in einem Großframilienkontext. D.h., „Patchwork-Familien“ waren häufiger, wenn nicht soger das Übliche. Wir sollten daher die Verhältnisse der biblischen Zeit nicht idealisieren.
Es geht nicht an, die moderne „bürgerliche Ehe“ oder die klassische Familie mit (lediglich) Mann, Frau und ihren leiblichen Kindern in die biblischen Verhältnisse als Norm einzutragen.
These 6
Nirgendwo in der Bibel ist die Ehe in irgendeiner Weise mit einer religiösen Feier verbunden. Heirat war ein öffentlicher, gesellschaftlicher Akt, eine Feier für ein ganzes Dorf. Dabei ging es um geklärte Eigentums– und Wirtschaftsverhältnisse, ebenso wie bei einer Scheidung v.a. zu klären war, wem das Eigentum (Ländereien, bewegliche Gegenstände) gehörte. Es gibt auch nirgendwo in der Bibel einen Auftrag zum speziellen Segen über eine Ehe bzw. anlässlich einer Eheschließung. Darum ist (für Evangelische) die Ehe anders als Taufe und Abendmahl kein Sakrament , sondern ein „weltlich Ding“. Die „Sakramentalisierung“ der Ehe in evangelikalen Kreisen ist unbiblisch! Der Segen (im AT z.B. über dem Schöpfungswerk, in den Vätererzählungen) zielt auf Mehrung des Lebens, Nachkommenschaft und irdischen Wohlstand. Der urgeschichtliche Segen über dem männlich und weiblich geschaffenen Menschen ist kein Segen über den „Ehestand“. Es ist eine kühne Übertragung, wenn diese Worte in kirchlichen Liturgien in diesem Sinne verwendet werden.
These 7
Es wäre naiv, biblische Aussagen einfach als „Gesetz“ auf die Gegenwart zu übertragen. Wer dies im Blick auf die alttestamentlichen Sexualtabus tut, müsste auch z.B. verlangen, dass eine Frau beim Tod ihres Mannes den Schwager heiratet oder von ihm ein Kind empfangen muss. Man müsste Schweinefleisch ebenso für ein Gräuel halten, Mischgewebe für verboten erklären oder (nach dem NT) z.B. auch ohne Geldbeutel herumlaufen. Für alle diese Aussagen ist zu klären, aus welchem Interesse, in welchem kulturellen Kontext sie formuliert sind. Einfach übertragbar ist keine davon. Um das zu bestimmen, braucht es Kriterien, und diese wären genau zu reflektieren.
Welche können dies sein? Hier wurden in der Theologiegeschichte unterschiedliche Modelle diskutiert, um zu begründen, warum manche Gebote und Aussagen Gültigkeit behalten sollten, andere aber nicht:
Eine „heilsgeschichtliche“ Differenzierug konnte begründen, warum bestimmte Verhältnisse (z.B. die Vielehe der Patriarchenzeit oder Kultgesetze der alttestamentlichen Zeit) als abgetan gelten konnten. Andere haben von der Rezeption des Alten Tetaments im Neuen her argumentiert, dass für die christliche Gemeinde eben jene Aussagen verbindlicher sind, die im Neuen Testament aufgenommen oder von Christus her formuliert sind. Martin Luther hat gelehrt, „Gesetz“ und „Evangelium“ (die beide im Alten und im Neuen Testament zu finden sind) in ihrer Dialektik wahrzunehmen und zu unterscheiden, um so der „Vergesetzlichung“ des Evangeliums entgegenzuwirken, die das Evangeliums verdunkelt und unhörbar macht. Spätere Theologen haben versucht zu fragen, welche Bestimmungen nur zeitgeschichtlich zu erklären sind. Man könnte noch andere Kriterien reflektieren. Aber v.a. ist theologisch zu fragen, was dem Evangelium von Jesus Christus gemäß ist. Was heißt es, Gott von der Erkenntnis seiner Liebe in Christus und im Kreuz her zu denken? Diese Fragen können nicht in einer verallgemeinerbaren „Liste zum Abhaken“ beantworet werden. Vielmehr sind diese von jeder und jedem einzelnen persönlich theologisch zu verantworten.
These 8
Im Blick auf die biblischen Aussagen zur „Homosexualität“ (wenn man die unterschiedlichen Aussagen überhaupt so zusammenfassen darf) ist festzustellen, dass diese aus bestimmten kulturellen Kontexten und Interessen formuliert sind: a) Bestimmte Sexualnormen, v.a. im Alten Testament, haben mit Reinheits-Vorstellungen zu tun, weil Ausflüsse, Samenerguss ebenso wie Menstruation, die Betroffenen kultisch verunreinigten und darum in bestimmten Situationen zu meiden waren. b) Im Hintergrund anderer Aussagen steht die Auffassung, dass ein Israelit unter allen Umständen Nachkommenschaft haben bzw. zeugen müsse, weshalb z. B. die Schwagerehe geboten war. c) Im griechischen und römischen Kulturkreis waren weiter spezifische Männlichkeits-Ideale verbreitet, und alle Formen von „Verweichlichung“, aber auch Emotionalität, galten – anders als heute – als unmännlich, schändlich. Interessanterweise ist ja in der Bibel nur von männlichem homophilen Verhalten die Rede, analoges Verhalten bei Frauen wird nirgendwo thematisiert. Im Blickfeld der neutestamentlichen Autoren wie Paulus waren Formen sexuellen Verhaltens in der hellenistischen Welt, die meist in Abhängigkeitsverhältnissen (mit Sklaven), mit hoher Altersdifferenz („Lustknaben“) und in hoher Promiskuität ausgeübt wurden. Hingegen ist eine auf Beständigkeit oder gegenseitige Verantwortungs-Übernahme angelegte Beziehung zweier gleichgeschlechtlicher Partner im Neuen Testament nirgendwo im Blick. Bedenkt man dies, dann ist die einfache Übertragung der Aussagen neutestamentlicher Lasterkataloge auf derartige Lebensformen und –verhältnisse nicht möglich.
These 9
Wenn heute ein Staat Ehen privilegiert und fördert (was in der Schweiz ja angesichts der steuerlichen „Heiratsstrafe“ nicht der Fall ist), dann ist der Grund ein ausgesprochen profaner und wirtschaftlicher: Hier erfolgt eine gegenseitige Verantwortungsübernahme, auch in Notfällen, die das Eingreifen der Gesellschaft überflüssig macht. Dies ist der Grund, der staatliche Instanzen motiviert, diese Rechtsform und die damit verbundenen Privilegien auch für andere Formen von Lebensgemeinschaft zu öffnen. Da in unserem Rechtssystem Kirche nur eine Traufeier abhalten kann, wenn die staatliche Eheschließung vorher erfolgt ist (in anderen Rechtssystemen ist dies anders), stellt sich die Frage der „Ehe“ für gleichgeschlechtliche Paare erst, wenn staatlich eine solche Rechtsgrundlage vorliegt (wie dies in Deutschland bereits der Fall ist, nicht in der Schweiz). Eine Segnung in speziellen Lebenssituationen ist freilich in seelsorglich begründeten Fällen auch ohne diese Grundlage (und damit schon jetzt) möglich. Die seelsorglichen Erwägungen stellen sich in beiden Fällen analog.
These 10
Für andere Menschen den Segen Gottes zu erbitten und ihnen diesen Segen zuzusprechen, ist allen Nachfolgerinnen und Nachfolgern Jesu aufgetragen. Dieser Auftrag ist nicht auf Pfarrpersonen beschränkt, wenngleich diese im Rahmen ihres seelsorglichen Auftrags dazu besonders berufen sind. Gesegnet werden aber immer Menschen, nicht Dinge, Verhältnisse, Lebenshaltungen, Einstellungen oder Handlungen.
Im Blick auf kirchliche Segenshandlungen ist wesentlich, was in einer evangelischen Trauung geschieht, was hier gesegnet wird, bzw. wofür um Gottes Segen gebeten wird: Zunächst ist klar, dass hier nicht „zusammengefügt wird“, weder durch Menschen noch durch Gott. Das wäre ein grobes Missverständnis. Vielmehr sind diejenigen, die zur kirchlichen Trauung kommen, schon zusammen. Im Blick auf den Segen gilt auch hier: Gesegnet werden Menschen, nicht Dinge (z.B. Ringe); gebeten wird um Gottes Segen für deren Beziehung zueinander, zu anderen und zu Gott, für das verantwortungsvolle Miteinander und Füreinander. Der Segen ist auch kein Absegnen oder Fürguterklären von Umständen und Lebensverhältnissen, bestimmten Einstellungen oder sexuellen Praktiken. Über all das wird (auch bei einer konventionellen, heterosexuellen Eheschließung) nicht befunden.
Aus diesen Gründen halte ich persönlich in der „Fluchtlinie“ des Evangeliums und aus Gründen der seelsorgerlichen Zuwendung zu Menschen in der Vielfalt der heutigen Lebenssituationen eine Öffnung der kirchlichen Praxis für theologisch begründbar. Unabdingbar ist jedoch, dass niemand zu einer Handlung gegen sein/ihr Gewissen gezwungen werden kann. Das gilt ganz allgemein für kirchliche Amtshandlungen, und hier – wo nach wie vor unterschiedliche Gewissensentscheidungen möglich sind – besonders. Auch hier und diesbezüglich muss in einer evangelischen Kirche ein Nebeneinander von unterschiedlichen Gewissensentscheidungen möglich sein, wenn sie denn evangelisch bleiben will.