Inhaltsverzeichnis
Von Andreas Studer
Inhalt
Was ist «Destruktive Religion»?
Gesunder Widerstand gegen «Destruktive Religion»
Leiden an «Destruktiver Religion»
Ausgewählte Bereiche von «Destruktiver Religion»
Glaube wird stärker als die Erfahrung
Statik wird stärker als Beweglichkeit
Demütigung und Selbsterniedrigung
Ekklesiogene oder religiöse Neurose
Destruktive Gottesbilder
Sexualfeindlichkeit
Gehorsam und Autorität
Moralismus
Begriffserklärungen
Literaturhinweise
Nachwort
Woher wir diesen Text haben
Was ist «Destruktive Religion»?
«Destruktive Religion» ist ein etwas unkorrekter Sammelbegriff. Gemeint damit sind missbräuchliche Anwendungen von Religion mit zerstörerischen Folgen. Unkorrekt ist der Begriff deshalb, weil Religion an und für sich nie destruktiv ist. Nur die missbräuchlichen Anwendungen sind es. Doch sind diese Missbräuche – es gibt sie nicht nur im Christentum, sondern in allen Religionen – so massiv, dass viele Menschen mit der Zeit Religion grundsätzlich nur noch als zerstörerisch empfinden. Aus diesem Grund ist es heute manchmal hilfreich, den Begriff zwar unkorrekt, und trotzdem differenzierend zu gebrauchen: Auf der einen Seite gibt es destruktive Religion, auf der anderen Seite befreiende Religion. Befreiende Religion meint das, was jede Religion in ihrem Ursprung eigentlich ist: Sinn- und orientierungsstiftend, lebensspendend, befreiend. Sie führt Menschen ein Stück näher zu sich selber und zugleich näher zum Göttlichen. Mit destruktiver Religion dagegen wird diese eigentliche Stossrichtung in ihr Gegenteil verdreht. Religion erscheint dann nicht mehr als sinn- und orientierungsstiftend, als etwas, das den Selbstfindungsprozess des Menschen unterstützt und ihm so zu mehr Lebendigkeit verhilft, sondern sie wird bewusst oder unbewusst missbraucht zur Ausübung von Druck, Zwang, Macht, Autorität und Gewalt. Solche zerstörerischen Anwendungen behindern dann die menschliche Selbständigkeit, führen in Unfreiheit und Abhängigkeit, zu Minderwertigkeits- und Schuldgefühlen. Destruktive Religion kann Ängste, ja sogar Wahnvorstellungen hervorrufen. Sie kann krank machen.
Wenn von destruktiver Religion die Rede ist, werden für einmal die Schattenseiten, die missbräuchlichen Praktiken, die gewaltsamen Anwendungen von Religion in den Vordergrund gerückt. Das Unheilvolle an Religion wird zur Sprache gebracht. Ein Blick in die Geschichte des Christentums zeigt eine Fülle von solchen Anwendungen; in den 2000 Jahren seit dem Auftreten von Jesus ist im Namen der Bibel viel behauptet und praktiziert worden – lang nicht alles war im Sinn von Jesus. Im Namen der Bibel wurden aggressive Eroberungskriege geführt, Ketzer und Hexen auf grausamste Weise verfolgt und ermordet, Frauen missachtet und unterdrückt, das jüdische Volk wurde verfolgt und fast ausgelöscht … Die Geschichte des Christentums ist eine Geschichte der Ausgrenzung und Verfolgung, der Abspaltung und Verteufelung.
Ein Blick in die Biografien von Menschen zeigt eine Fülle von Qualen, von Gewalt, von Unterdrückung und Unfreiheit, von Misshandlungen, Ängsten und Demütigungen, welche mit Religion zu tun haben. Destruktive Religion ist ein Begriff, um all diesen Schattenseiten einen Namen zu geben.
Gesunder Widerstand gegen «Destruktive Religion»
«Ein Junge hatte Bonbons genascht, und seine Mutter hatte ihn erwischt. Da sie eine fromme Frau war und ihre Kinder religiös erzogen hatte, verwickelte sie ihren Sohn in folgendes Gespräch:
«Aber Junge, weisst du denn nicht, dass der liebe Gott dich immer sieht und alles beobachtet, was du tust!»
«Sicher Mama, das weiss ich.»
«Dann ist dir ja auch klar, dass er dich eben in der Küche gesehen hat!»
«Natürlich hat er mir zugesehen!»
«Und was hat er wohl gesagt, als er sehen musste, wie du genascht hast?»
«Nun, er hat gesagt: Mein Lieber, du und ich, wir sind gerade allein hier in der Küche; nimm ruhig zwei Bonbons!»»
(Niehl, F.W., Die vielen Gesichter Gottes, München 1991, S. 98)
Wenn Religion missbraucht wird, etwa wenn Gott für billige Erziehungszwecke wie ein Hilfspolizist eingesetzt wird, kann Widerstand gegen einen solchen Missbrauch auftreten. Das Beispiel zeigt eine besonders listige Widerstandsform: Der Vereinnahmung von Gott wird eine Gegen-Vereinnahmung entgegengehalten: Wenn die Mutter Gott für ihre Interessen benutzt, dann schlage ich sie mit ihren eigenen Waffen und instrumentalisiere Gott für meine.
Gerade Kindern fehlt allerdings oft das Wissen, um solche Gegenvereinnahmungen überhaupt formulieren zu können. Doch haben Kinder ein gutes Gespür dafür, was an Religion ihnen gut tut und was nicht. Aus meiner eigenen Sonntagsschulzeit ist mir folgende Szene noch in guter Erinnerung:
Die Sonntagsschullehrerin hatte versucht, uns Kindern klarzumachen, dass wir alle, auch wir Kinder mitschuldig wären am Kreuzestod von Jesus Christus. Das leuchtete uns nicht ein, und wir protestierten. Dieser Protest wurde noch heftiger, als sie, zur Unterstützung ihrer Behauptung, Beispiele heranzog: Wenn wir etwa mit unseren Geschwistern streiten, unseren Eltern nicht gehorchen würden, dadurch würden wir uns schuldig machen.
So etwas liessen wir Kinder uns nicht sagen. Ein gesundes Gerechtigkeitsempfinden in uns liess uns protestieren. Obwohl nicht alle von uns harmlos waren: Die meisten fühlten sich von den Beispielen der Sonntagsschullehrerin angesprochen. Natürlich gab es immer wieder kleinere, manchmal auch grössere Vergehen, an denen sich der eine oder die andere vielleicht sogar schuldig fühlte. Dass diese Vergehen aber mit dem Tod von Jesus zu tun haben sollten, das leuchtete glücklicherweise keinem von uns ein. Die Sonntagsschullehrerin war offenbar auch nicht so verbissen überzeugt von dem, was sie uns gegenüber erörterte. Vielleicht hatte sie sich diese Sätze auch nur angelesen in ihren Anweisungen, auf jeden Fall insistierte sie nicht lange, machte, wahrscheinlich auch etwas überrascht von unseren heftigen Reaktionen, sogar einen kleinen Rückzieher und meinte, wir hätten vielleicht sogar recht. Kinder könne man nicht verantwortlich machen für den Tod von Jesus. Aber die Erwachsenen schon. Sie jedenfalls fühle sich schuldig. Als darauf einer der ganz Aufgeweckten fragte, ab welchem Alter genau sich denn diese Schuld einstellen würde, meinte sie: Kommt Kinder, lasst uns singen: «Gott ist die Liebe, Gott ist die Liebe …». Das liessen wir uns nicht zweimal sagen, denn es war unser Lieblingslied, das wir jeweils lauthals in das Schulzimmer grölten. So kam die heikle Stunde doch nicht zu einem einigermassen guten Ende. Eine in der Tiefe verborgene Ahnung darüber, was an Religion uns lebendig macht und was dagegen unsere Lebendigkeit verhindert, ermöglichte uns diesen Protest und bewahrte uns vor einem problematischen religiösen Moralismus und daraus resultierenden Schuldgefühlen.
Oft aber haben Menschen der Konfrontation mit destruktiver Religion nichts entgegenzuhalten – weder Gegenvereinnahmungen noch offenen Protest. Dann bleibt als letzter Ausweg noch die Flucht:
«Ein Fünfjähriger interessierte sich leidenschaftlich für Religion. Oft besuchte er mit seiner Tante Kirchen und hörte gespannt, was sie über die Heiligenfiguren zu berichten wusste. Einmal gingen ihr, als sie vom Leiden Jesu erzählte, die Worte ‹für dich› über die Lippen. Der Jungen bezog dies unmittelbar auf sich. Seither zerrte er seine Mutter um jedes Kirchenportal herum und atmete erst auf, wenn dieses seinen ängstlichen Blicken entschwunden war.»
(nach Schuster-Brink, C., Kinderfragen kennen kein Tabu, Ravensburg 1991, Zitiert nach Bucher A., S. 95).
Für viele Menschen werden die Angriffe einer destruktiven Religion mit der Zeit so dominant, dass sie schliesslich Religion nur noch als zerstörerisch, lebenshemmend oder lebensfeindlich erfahren. Die Ahnung über die positiven lebensbejahenden Kräfte von Religion wird zugedeckt durch wiederholte Erfahrungen mit zerstörerischen religiösen Vorstellungen und Praktiken. Glücklicherweise entscheiden sich diese Menschen dann meist für das Leben, unglücklicherweise schütten sie das Kind oft mit dem Bad aus, indem sie sich von der religiösen Tradition als solches grundsätzlich distanzieren. In dieser Distanzierung gibt es dann sehr viel verschiedene Nuancen: Einige werden radikal religionskritisch, ja religionsfeindlich; andere wenden sich anderen religösen Systemen und Traditionen zu; viele distanzieren sich innerlich von allem Religiösen, nehmen aber oberflächlich am kirchlichen Leben teil, weil es sich so gehört. Die meisten Menschen finden zu einer unklaren, unidentifizierbaren und wirren religiösen Haltung – einer Art anonymer Religion:
«Die grössere Hälfte unserer Bevölkerung lebt in Distanz zu jedem gemeinschaftlichen oder kirchlichen Leben. Wiederum die Mehrheit unter dieser Mehrheit besucht auch keine neu-esoterischen Workshops, liest keine theosophischen Schriften und liebäugelt nicht mit der Weisheit des Ostens. Wenn wir Pfarrer mit dieser religiös distanzierten Mehrheit ins Gespräch kommen – Kasualien sind meistens der traurige oder fröhliche Grund für eine vorsichtige Kontaktaufnahme mit einem Vertreter der Kirche -, so heisst es sogleich: ‹Wissen Sie, Herr Pfarrer, Sie sehen uns zwar nie in der Kirche. Aber wir haben auch unseren Glauben.'»
(Schmid, 1992, S. 29).
Leiden an «Destruktiver Religion»
Bevor im August 1945 US-Bomber mit atomaren Waffen nach Japan flogen, bekamen diese den priesterlichen Segen. Auch darin zeigt sich eine unwürdige Vereinnahmung des Christlichen. Die Bewohner von Hiroshima und Nagasaki hatten keine Möglichkeit, zu fliehen. Sie erlitten grausame Qualen.
Es gibt Menschen, welche – im übertragenen Sinn – täglich bombardiert werden mit zerstörerischen Anwendungen von Religion – und keine Fluchtmöglichkeiten haben: Sie sind gefangen, eingebunden in ein enges System, in Familie oder Gemeinschaft.
In einem Lehrerfortbildungskurs zum Thema Jesusbilder habe ich folgende Situation erlebt: Wir beschäftigen uns mit der Passion Jesu. Wir Leiter haben die Kursteilnehmerinnen beauftragt, alle Probleme zu sammeln, welche sich zu dem dogmatischen Satz: «Jesus ist für unsere Sünden gestorben» stellen. Bei der Auswertung meldet sich eine ältere Kursteilnehmerin, eine bestandene Lehrerin aus dem Berner Oberland zu Wort, welche in der bisherigen Arbeit als sehr lebendig, kreativ und kritisch aufgefallen ist: Seit ihrer Jugendzeit habe sie gerade diese Frage immer in sich getragen. Kaum hat sie aber zu sprechen begonnen, kommt sie ins Stocken, ein Weinkrampf hindert sie am Weitersprechen. Glücklicherweise wird sie von einer weiteren Kursteilnehmerin ermutigt, herauszulassen, was sie bedrückt. Und sie erzählt: Das Umfeld, in dem sie sich ein Leben lang bewegt hat und immer noch bewegt, ist zwar nicht eng religiös, aber traditionell bürgerlich konservativ. Da sei es nie erlaubt gewesen, ein religiöses Dogma zu hinterfragen – auch wenn die Bedeutung niemandem klar gewesen sei. Solche Sätze hätten einfach geglaubt und – für sie als Lehrerin besonders schlimm – unbefragt an ihre Schulkinder weitergeben werden müssen. Eigenes Denken, kritisches Hinterfragen von religiösen Dogmen sei ihr schon früh ausgetrieben worden. Die von uns Kursleitern gestellte Aufgabe habe in ihr eine unheimliche Gegensatzspannung erzeugt; es sei von ihr das gefordert worden, was sie immer schon gewollt hätte, ihr aber noch nie erlaubt gewesen sei: Das kritische Fragen und Formulieren von Problemen in bezug auf Religion.
Ein anderes erschreckendes Beispiel aus der kirchlichen Erwachsenenbildung erlebe ich anlässlich einer Einführung in die Zehn Gebote. Wie üblich beginne ich ein solches Thema mit der Aufforderung an die Teilnehmerinnen, Schwierigkeiten und Probleme zu sammeln, welche sie damit haben. In der Gruppe, welche Probleme zum Elterngebot sammelt, erzählt mit grosser Überwindung eine Frau, wie sie als Kind von ihrem Vater sexuell missbraucht wurde. Weil sie sich als gläubige Christin verstehe, sei sie noch heute hin- und hergerissen zwischen der Anforderung, welche Gott an sie stelle – nämlich ihren Vater zu ehren – und ihrem Hassgefühl dem Vater gegenüber.
Diese skizzierten Beispiele stehen stellvertetend für unzählige Leidenserfahrungen, welche Menschen aufgrund missbrauchter Religion täglich erfahren – und oft lange nicht die Möglichkeit haben, diesen destruktiven Erfahrungen etwas entgegenzuhalten oder ihnen zu entrinnen.
Allerdings unterstellen sich oft auch Menschen freiwillig unter enge und strenge religiöse Konzepte, welche in ihren Anwendungen mehr oder weniger destruktiv werden können. In unserer zunehmend komplexen Welt neigen immer mehr Menschen dazu, totalitäre Haltungen einzunehmen. In einengenden Religionskonzepten finden sie dann klare Anweisungen darüber, was zu tun und was zu unterlassen ist, was eindeutig gut und eindeutig böse ist. Oft wirken solche einengenden Konzepte in gewisser Hinsicht sogar hilfreich und befreiend.
Ausgewählte Bereiche von «Destruktiver Religion»
Destruktive Anwendungen von Religion kommen auf verschiedenen Ebenen in vielen verschiedenen Bereichen vor. Einzelne durchaus wichtige Bereiche werden hier allerdings nicht weiterverfolgt, weil sie als solche zu umfassend sind und eine eigene Bearbeitung verdienten. Im Literaturteil wird aber hilfreiches Material zu diesen Bereichen erwähnt. Ausgeklammert werden etwa die gesamte Kirchengeschichte, ebenfalls die Fundamentalismus- und Sekten-Thematik. Die in vielen Religionen verbreitete Frauenfeind- lichkeit und Frauenverachtung wird hier eb- enfalls nicht weiterverfolgt.
Im folgenden werden einzelne Bereiche, in welchen sich destruktive Religion aufzeigen lässt, und einzelne Kennzeichen von destruktiver Religion zum Teil nur kurz, zum Teil etwas ausführlicher skizziert.
Glaube wird stärker als die Erfahrung
Oft ist Religon in ihrer Anwendung dann destruktiv, wenn sie zu stark gewichtet wird. Eigentlich ist nicht zuwenig Religion das Problem, sondern zuviel. Das zeigt sich etwa dann, wenn religiöse Vorstellungen und Behauptungen, welche das eigene konkrete Leben bestimmen, stärker gewichtet werden als die eigenen Erfahrungen oder das eigene Gefühl. Gerade dann zeigt sich das Destruktive deutlich: Wenn wir uns nicht mehr nach dem richten, was aufgrund unserer gemachten Erfahrungen das Gute und Richtige ist, sondern nach dem, was von uns scheinbar gefordert wird. Wir tun dann etwas, bei dem wir manchmal bewusst, oft aber unbewusst spüren, dass es uns nicht gut tut, meinen jedoch, dass die Religion dies von uns verlangen würde. Das ist eine Verdrehung jeder ursprünglichen Bedeutung von Religion. Denn Religion fordert nie, andern oder sich selber Schaden zuzufügen.
Statik wird stärker als Beweglichkeit
Beweglichkeit, Neuorientierung, Anpassung an Neues sind Voraussetzungen für jedes gelungene Leben. Jeder Mensch ist in seinem Leben immer wieder herausgefordert, sich zu entwickeln, seinem Selbst einen Schritt weiter entgegenzugehen, sich neu in seinem Leben auszurichten, auf Veränderungen, welche in seinem Umfeld passieren, einzugehen und darauf zu reagieren.
Oft wird Religion aber eingesetzt, um Veränderungen zu verhindern, um das Bestehende zu bewahren. Destruktive Religion betont das Statische. Auf der poltischen Ebene zeigt sich das etwa in der Zementierung der bestehenden Zustände mithilfe der Religion, in der Legitimierung der bestehenden politischen Systeme und Mächte und der entsprechenden gesellschaftlichen Formen (Familie, Armee, Volk und Vaterland), in der Ausrichtung auf konservative Werte wie Ordnung und Disziplin (F Materialien C. 3). Auf der individuellen Ebene zeigt sich das oft dann, wenn die Bibel gebraucht wird als strenge Richtschnur, welche mit klaren Sätzen vorgibt, wie man sich zu verhalten habe; oder dann, wenn mit einem Rückgriff auf religiöse Vorstellungen alles Neue, alles Überraschende, alles Fremde, jede Neuorientierung mit Skepsis betrachtet und abgelehnt, oft sogar verteufelt wird.
Demütigung und Selbsterniedrigung
«Ich bin ärger als ein vergifte Pestilentz; weil ich alle, so mit mir umgehen, anstecke und vergifte. Wenn ich nur meinen Mund aufthue, so schlagt als auss einem eröffneten Grab der Gestanck meiner Sünden herauss.»
(Aus dem Gebett-Buch der zweyen H:H: Schwestern Gertrudis und Mechthildis, zit. nach Bucher, S. 25)
Religion kann als Herrschafts- und Disziplinierungsinstrument eingesetzt werden. Nun lassen sich selbstlose, brave und Ich-schwache Menschen besser beherrschen. Selbstbewusste und freche Menschen dagegen lassen sich eher schlecht beherrschen. Insofern gibt es eine lange Tradition, in welcher Religion eingesetzt wurde, um die Menschen klein und schwach zu machen. Destruktive Religion erniedrigt Menschen, betont ihre Schlechtigkeit und Schuldhaftigkeit. Menschen mit destruktiven religiösen Prägungen lernen schlecht, ihre Interessen wahrzunehmen und durchzusetzten. Oft bleiben solche Menschen ein Leben lang auf eine schlechte Art Kinder: Unmündig und ohne Eigenverantwortung. «Kind bleiben und untertan sein» – so zeige sich die Religion in vielen Biografien, meint Bucher, der von einer grundsätzlichen Infantilisierung durch die religiöse Erziehung spricht.
Grundsätzlich vermittelt «Destruktive Religion» ein durch und durch negatives Menschenbild. Je schlechter, je kleiner und unbedeutender der Mensch, desto besser, grösser und bedeutender dagegen Jesus und Gott.
«Eine solche Grundeinstellung verhindert selbständiges und mündiges Handeln und führt oft in eine ‹depressive oder introjektive› Stimmung, in der sich die Betroffenen für alles schuldig fühlen und gezwungen sind, sich permanent zu entschuldigen, selbst dafür, dass sie überhaupt sind».
(Bucher S.98)
Schlimmstenfalls werden Menschen durch die Religion dazu getrieben, sich selbst zu bestrafen. Das Leiden wird auf eine masochistische Art gesucht – und so kann man sich dann in die Nachfolge des Leidenden am Kreuz stellen. Unbewusste Schuldgefühle verstärken diese Selbstbestrafungstendenz.
«Viele Neurotiker missbrauchen einfach die Religion, indem sie sie in den Dienst ihrer Selbstbestrafung stellen. Sie neigen dazu, ihre religiösen Überzeugungen und Übungen zu einer einzigen Selbstkasteiung und -bestrafung umzufunktionieren.»
(Ringel/Kirchmayr S. 32f)
Ekklesiogene oder religiöse Neurose
Die von der Religion vermittelten Einengungen, Erniedrigungen, Schuldgefühle und Ängste können psychische Beeinträchtigungen verursachen. Seit den Fünfzigerjahren sprechen Tiefenpsychologie und Psychiatrie von ekklesiogenen Neurosen (d.h. von der Kirche – ekklesia – erzeugte Neurosen). Heute spricht man wohl besser von religiösen Neurosen, da entsprechende psychische Beeinträchtigungen nicht ausschliesslich an die Kirche gebunden sind, sondern in allen andern religiösen Erziehungssystemen eine Rolle spielen können. Unter diesem Begriff werden alle seelischen und psychoneurotischen Erkrankungen zusammengefasst, die durch Fehlformen der Frömmigkeit und Religion entstehen. Der Begriff umfasst daher alle pschysichen (und psychosomatischen) Elemente von «Destruktiver Religion». Nach Hark
«kann eine zu einengende kirchliche Bindung und fanatische Religiosität das seelische Erleben derart beeinträchtigen, dass es zu Störungen und Erkrankungen kommt. Auch eine zu prüde und sexualfeindliche Erziehung sowie ein neurotisches Gottesbild tragen häufig zu ekklesiogener Neurose bei.»
Destruktive Gottesbilder
Verbreitete Vorstellungen von Gott können in ihrer praktischen Konsequenz äusserst gewalttätig und zerstörerisch sein. Am eindrücklichsten zeigt das Tilman Moser in seiner schonungslosen Abrechnung mit dem Gott seiner Kindheit:
«Aber weisst du, was das Schlimmste ist, das sie mir über dich erzählt haben? Es ist die tückisch ausgestreute Überzeugung, dass du alles hörst und alles siehst und auch die geheimsten Gedanken erkennen kannst … In der Kinderwelt sieht das dann so aus, dass man sich elend fühlt, weil du einem lauernd und ohne Pausen des Erbarmens zusiehst und zuhörst und mit Gedankenlesen beschäftigt bist … Dein Hauptkennzeichen für mich ist Erbarmungslosigkeit. Du hattest so viel an mir verboten, dass ich nicht mehr zu lieben war. Deine Bedingungen waren zu hoch für mich …»
Gott als ‹big brother›, als Auge, das alles sieht und durchschaut, den hintersten Winkel der eigenen Intimintät überwacht, – ein äusserst billiges, aber praktisches Erziehungsinstrument. Das Kind fühlt sich auch dann kontrolliert, wenn es – etwa auf dem Schulweg oder nachts im Bett – dem Blickfeld der Eltern entschwunden ist. Ein solches Gottesbild ist nicht nur entwürdigend, es behindert auch jede selbständige Entwicklung und jedes gesunde Wachstum.
Gott kann in der Vorstellung von Menschen zu einem pedantischen Gesetzesgott werden, «der alles akkurat in die Lebensrechnung einträgt, als unheimlicher Schnüffler, als moralischer Wachhund, als Weltpolizist, als Schuldnergott». (Frielingsdorf)
Oft tritt dieser ‹Buchhaltergott› in Verbindung mit einem unerbittlichen strafenden Richtergott, der die Strafen für die aufgeschriebenen Schandtaten und Sünden vollzieht.
«Für so erzogene Menschen ist Christentum ein Frondienst in einem unüberschaubaren Gewirr von Verboten und Geboten, die niemals alle erfüllt werden können. Die Folge: Es bleiben immer unbezahlte Rechnungen offen für nicht erbrachten Gehorsam, übertretene Gesetze oder eigenmächtige Freiheiten.»
Diese wiederum erzeugen Schuldgefühle, das Leben wird zur Qual.
Oft meint man, ein ähnlich destruktives Gottesbild finde sich im «Alten» Testament. Das ist allerdings eine gefährliche Projektion eines im Christentum verbreiteten destruktiven Gottesbildes auf das Judentum. Tatsächlich ist in biblischen Texten, gerade in den Psalmen, oft von einem richtenden Gott die Rede. Nie geht es dabei aber um willkürliche Gewalt, sondern um den Schutz derer, die Schutz brauchen. Gott in der Bibel ist der Anwalt der Elenden und Erniedrigten. Er schafft denen Recht, die sonst nie Recht bekommen, den Kleinen, welche es gegen die Mächtigen und Gewalttätigen zu schützen gilt. Der Gott der Bibel richtet, aber immer nur so, dass er den Schwachen und Unterdrückten zu ihrem Recht verhilft. Das ist nun etwas ganz anderes als die destruktive Vorstellung des Richtergottes etwa in der Erziehung.
Im biblischen Kontext hat diese Vorstellung eine äusserst befreiende Funktion, in der pseudoreligiösen Erziehung eine äusserst unterdrückende.
So ist es überhaupt gefährlich, einzelne Bilder von Gott aus einem bestimmten Kontext, in welchem dieses Bild durchaus Sinn machen kann, in eine ganz andere Situation zu übertragen. Es gibt Gottesbilder, welche für gewisse Konstellationen, etwa für bestimmte kindliche Phasen durchaus hilfreich sein können, in anderen Konstellationen, für erwachsenen Menschen etwa, dann allerdings destruktiv werden. Die Schwierigkeiten im Bereich der Gottesbilder, vielleicht das grösste Missverständnis überhaupt, ist die Vorstellung, dass ein einmal gewonnenes Bild von Gott für alle Zeiten zu gelten habe. Gerade hier ist jedoch Beweglichkeit gefordert. Gottesbilder müssen wachsen und reifen, mit den wachsenden und reifenden Menschen zusammen, sie müssen befragt und neu überprüft werden. Gottesbilder müssen immer wieder erneuert werden.
Sexualfeindlichkeit
«Einmal hatte ich gesehen, wie der Stier die Kuh besprang und Tante Frieda in aller Unschuld davon erzählt. Sie hatte mir gedroht, mich mit dem Garbenseil durchzuschmieren, wenn ich ihr nochmals mit öppis so Gruusigem komme.»
«Offene Haare, kurze Rücke waren Sünde, das Tanzen war Sünde, der Blick in den Spiegel war Sünde, Spielen war Sünde.»
Wie missbrauchte Religion die menschliche Lebendigkeit einschränken kann, zeigt sich nirgends so deutlich wie im Bereich der Lust und der Sexualität. Nach wie vor ist die Meinung weit verbreitet, die Bibel sei grundsätzlich sexualfeindlich, und wer die Bibel ernst nehmen wolle, sollte auf viele der heute praktizierten Formen von Sexualität verzichten. So hat sich in den letzten Jahren unter entschiedenen jungen Christen die Bewegung ‹Wahre Liebe wartet› etabliert. Diese jungen Menschen haben sich bis zu ihrer Hochzeit zu sexueller Abstinenz verpflichtet und berufen sich bei diesem Verzicht auf die Bibel. Solche Verzichtserklärungen mögen noch harmlos sein. Gefährlicher sind die Versuche von religiösen Sexualfeinden, die Aufklärungsarbeit an öffentlichen Schulen, die öffentliche Diskussion über Sexualität überhaupt zu verhindern; gefährlich sind vor allem auch die Ausgrenzungsversuche, etwa gegenüber Homosexuellen (wenn etwa ‹Heilungsseminare› für Homosexuelle angeboten werden, in welchen sich Homosexuelle zu Jesus bekennen dürfen und so von ihrer ‹Krankheit› angeblich befreit werden). Destruktiv sind vor allem die Produktion von Sexualängsten, von verkrampften Einstellungen gegenüber allem Sexuellen durch eine prüde sexualfeindliche Erziehung.
Die Verurteilung und Diskriminierung der Sexualität hat im Christentum eine lange Tradition. Sie ist aber nicht in der Bibel zu finden. Die religiöse Sexualfeindlichkeit ist eine Projektion, eine Übertragung einer bereits bestehenden eigenen Sexualfeindlichkeit auf die Bibel. Die Bibel ist an einer engen Sexualmoral überhaupt nicht interessiert. Weder Homosexualität noch aussereheliche Sexualität, nicht einmal Prostitution lässt sich generell mit der Bibel verurteilen. Dagegen findet sich etwa im Hohelied eine höchst erotische Liebeslyrik. Andere religiöse Traditionen haben das besser begriffen als das Christentum. Juden zum Beispiel sehen in der körperlichen Liebe nie eine Sünde. Die Frommen unter ihnen feiern einen religiösen Festtag mit der körperlichen Vereinigung. Religion und Sexualität stehen hier nicht als Gegensätze, sondern als Gegenüber, als Verbündete.
Warum gibt es im Christentum eine so ausgeprägte sexualfeindliche Tradition? Das hat vorwiegend mit Ordnungs- und Disziplinfanatismus zu tun. In der Sexualität nämlich zeigt sich der Mensch von seiner wilden, unkontrollierten, chaotischen Seite. Im Sexualakt werden gewöhnliche Ordnungssysteme verlassen. In der Sexualität geschieht ein Loslassen – eine zutiefst religiöse Erfahrung. Darum ist Sexualität so lebendig, so attraktiv, gerade darum ist Sexualität manchmal oder oft auch schwierig.
Gerade dieses Loslassen, dieses lebendige Chaos, welches Sexualität in sich trägt, gefährdet das strenge Ordnungssystem, welche eine strenge religiöse Haltung braucht, um das Leben zu meistern. Das Wilde und Unkontrollierte der Sexualität macht Angst und gefährdet die Stabilität des eigenen Ichs. Darum muss Sexualität streng kontrolliert werden. Und um diese Kotrolle zu legitimieren, wird auf die Bibel zurückgegriffen. So wird die eigene Sexualangst und Sexualfeindlichkeit in die Bibel hineinprojiziert.
Gehorsam und Autorität
«Der ältere Sohn war ein gehorsamer Junge, der alle Tage seine Arbeit gut verrichtete. Der Vater hatte ihn sehr lieb. Aber der jüngere Sohn war nicht gehorsam. Er machte dem Vater viel Kummer…»
(Gleichnis vom ‹verlorenen Sohn› nach der Kinderbibel von Anne de Vries)
Oft stehen in destruktiven Konzepten der Gehorsam gegenüber einem autoritären Gott, der keinen Widerspruch duldet, in einer Linie mit dem Gehorsam gegenüber politischen und kirchlichen Instanzen und mit einem unbedingten Gehorsam den Eltern gegenüber. Gefährlich und zerstörerisch daran ist, wenn Menschen blind jedem Befehl Folge leisten, nur weil dieser Befehl durch eine übergeordnete Autorität legitimiert ist. Blinder Gehorsam von guten Christen gegenüber Autoritäten führte zur Massenvernichtung von Juden im Nationalsozialismus und zu unzähligen anderen grauenhaften Verbrechen gegenüber der Menschheit. Psychologische Experimente wie etwa das bekannte Milgram-Experient zeigen, dass streng religiös erzogene Menschen eher dazu neigen, auch unmenschliche und unmoralische Befehle zu befolgen, wenn diese durch übergeordnete Autoritäten vermittelt werden.
Destruktive Religion macht Menschen kritiklos und brav, kriecherisch. Sie führt so zur Unfähigkeit, Verantwortung für sich und sein Leben zu übernehmen und fördert Unmündigkeit.
Verhängnisvoll hat sich eine falsche Vereinnahmung des Elterngebotes (Ex 20,12: Ehre deinen Vater und deine Mutter) ausgewirkt. Im Verlauf der Geschichte des Christentums ist dieses Gebot stark uminterpretiert worden: Ehren wurde mit blindem Gehorsam ersetzt, die Begriffe ‹Vater› und ‹Mutter› wurden ausgeweitet auf jede Obrigkeit und Herrschaft. Dabei ging vergessen, dass die Zehn Gebote nur im Zusammenhang der Exodusgeschichte, mit der Erzählung über den Auszug aus dem ägyptischen Unterdrückungssystem zu verstehen sind. Die Zehn Gebote sind Bestandteil dieser Befreiungsgeschichte. Mit ihnen wird ausgedrückt, wie eine neue Gesellschaft aussehen soll, in welcher keine Unterdrückung wie im ägyptischen Sklavenhaus mehr vorkommen wird. Vergessen wurde auch, dass sich die Gebote nicht an (ungehorsame) Kinder, sondern an eine gesellschaftliche Gruppe von erwachsenen Frauen und Männern gerichtet sind. Sie haben vorwiegend eine gesellschaftspolitische, weniger eine individuelle Stossrichtung. Ehre deinen Vater und deine Mutter mag in vielen Fällen auf die Versorgung der Eltern im hohen Alter zielen, denn im Reich der Freiheit kümmert man sich um die Schwachen und überlässt sie nicht ihrem Schicksal. Das Elterngebot kann aber noch viel mehr bedeuten: «Man ehrt Vater und Mutter, wenn man an ihre Stelle tritt, das heisst: an ihre Stelle auf dem Weg der Befreiung, im Kampf um das gute Leben auf Erden.» (Zurmond) Vater und Mutter sind diejenigen, die uns den Weg in die Freiheit gezeigt haben. Sie ehren heisst, diesen Weg weiterzugehen.
Wird mit diesem Gebot – wie es eben oft geschehen ist – blinder Gehorsam gefordert, so wird diese befreiende Perspektive in ihr Gegenteil verkehrt. Das Gebot dient dann im Prinzip der Unterdrückung.
Moralismus
«Wenn die Kinder artig sind,
kommt zu ihnen das Christkind.
Wenn sie ihre Suppe essen
Und das Brod auch nicht vergessen;
Wenn sie ohne Lärm zu machen
Still sind bei den Siebensachen,
Beim Spazierengehn auf den Gassen
Von Mama sich führen lassen,
Bringt es ihnen Gut’s genug.
Und ein schönes Kinderbuch.
(Einleitung zum Struwwelpeter)
Moralismus ist Konditionierung von menschlichem Verhalten mit psychologischem Druck, indem Schuldgefühle produziert werden. Durch moralisierende Mechanismen werden Forderungen an Menschen gerichtet, welche den Adressaten nicht einsichtig sind und welche oft den eigenen Erfahrungen widersprechen. Werden die Forderungen erfüllt, wird eine Belohnung in Aussicht gestellt, werden sie jedoch nicht erfüllt oder können sie nicht eingehalten werden, droht eine raffinierte indirekte Bestrafung. Raffiniert daran ist, dass die Bestrafung nicht durch die fordernde Autorität durchgeführt wird, sondern durch das erzeugte Schuldgefühl durch den Adressaten selber. «Du bringst mich noch ins Grab!» – oder: «Ich habe letzte Nacht wieder kein Auge zugekriegt!» – («weil du so spät nach Hause gekommen bist.») Nicht nur (religiöse) Erziehung, sondern auch kirchliche Predigt ist geprägt von solchen Moralismen. Sie sind äusserst wirkungsvoll, denn wer kann schon gut mit Schuldgefühlen leben.
«Eine Lehrerin hat in einer Klasse 6 das Thema ‹Angst› begonnen. Sie hat – wie üblich – die Ängste der Schüler sammeln und malen lassen, um dann die Geschichte von der Stillung des Sturms mit den Schülern zu besprechen. Ergebnis: Ein Schüler meldet pflichtbewusst: ‹Jesus will, dass wir keine Angst mehr haben sollen.› Bestätigung durch die Lehrerin. Schluss der Stunde.»
(Aus: Der Evangelische Erzieher 6/1987)
Moralismus ist auch dann noch problematisch, wenn die gestellten Forderungen durchaus berechtigt sind, wenn sie ein menschenfreundliches Postulat beinhalten. In diesem Unterrichtsbeispiel lernen die Kinder, dass Jesus nicht will, dass die Kinder Angst haben. Was aber, wenn die Angst trotzdem da ist (und vielleicht sogar berechtigt ist)? So werden gutgemeinte Forderungen destruktiv. «Seid lieb zueinander!», «Ihr müsst Ausländer nett behandeln!» – ja sogar Sätze wie:»Du musst mehr Selbstvertrauen entwickeln!». können oft demotivierend, kontraproduktiv, destruktiv wirken. Wenn die Erfahrungen anders sind, wenn es Kindern durchaus gut tut, sich zu prügeln, wenn meine Ausländerfeindlichkeit mein eigenes Selbstwertgefühl stärkt, dann bleibt die gutgemeinte und vom Inhalt her berechtigte Forderung unverständlich. Wird sie nun mit psychologischem Druck und einem religiösen Hintergrund verbunden (Jesus will, dass wir uns lieb haben, Gott will das so…), entstehen Spannungen zwischen religiösem Anspruch und realer Befindlichkeit und Erfahrung. Ich merke, dass mir etwas gut tut, das Gott nicht gut findet. Entscheidet man sich für die religiöse Ideologie, dann sind die Schuldgefühle da.
Als Alternative bleibt, die religiöse Ideologie nicht ernst zu nehmen. Das bedeutet allerdings, die Autorität, welche hinter der Forderung steht – sei dies nun die Lehrerin oder der Pfarrer – oder letztlich Gott (beziehungsweise ein falsch vermitteltes Gottesbild) nicht mehr ernst zu nehmen.
Begriffserklärungen
Aus: Helmut Hark, Religiöse Neurosen. Ursachen und Heilung, Stuttgart 1984, S. 286f., S. 290.
Ekklesiogene Neurose
«Unter diesem Begriff werden alle jene seelischen Schwierigkeiten und psychoneurotischen Erkrankungen zusammengefasst, die durch Fehlformen der Frömmigkeit und Religion entstehen. Da die Kirche (ekklesia) als Gemeinschaft der Gläubigen die Frömmigkeit und die Religion entscheidend prägt und trägt, wurde diese Bezeichnung als Sammelbegriff für diese spezielle Neurose gewählt. Damit wird nicht gesagt, dass die Kirche und die Religion krank mache. Während eine ganzheitliche Beziehung zwischen dem Glaubensleben und dem Seelenleben für beide Seiten positive Auswirkungen hat, kann eine zu einengende kirchliche Bindung und fanatische Religiosität das seelische Erleben derart beeinträchtigen, dass es zu Störungen und Erkrankungen kommt. Auch eine zu prüde und sexualfeindliche Erziehung sowie ein neurotisches Gottsbild tragen häufig zu e.N. bei.»
Neurose
«Ein Sammelbegriff für alle psychischen Erkrankungen und seelischen Schwierigkeiten. Durch die N. kommt es zu Störungen des Erlebens und des Verhaltens. Die N. offenbart einen verfehlten Anpassungsakt an das Leben und kann als «fauler Kompromiss» bezeichnet werden. Nach Jung ist die N. ein Ersatz für legitimes Leiden. In den tiefenpsychologischen und psychotherapeutischen Schulrichtungen gibt es unterschiedliche Einteilungen der Neuroseformen. Es wird von Psychoneurosen gesprochen, wenn die seelischen Störungen im Vordergrund stehen, und von Organneurosen bei körperlichen Symptomen und seelisch bedingten psychosomatischen Krankheiten. Andere N. sind durch das hervorstechende Symptom charakterisiert, wie: Angstneurose, Zwangsneurose oder Charakterneurose etc.
Trefflich formuliert Jung (in: Erinnerungen, S. 413): «Zustand des Uneinigseins mit sich selbst, verursacht durch den Gegensatz von Triebbedürfnissen und den Anforderungen der Kultur, von infantiler Unwilligkeit und dem Anpassunsgwillen, von kollektiven und individuellen Pflichten. Die N. ist ein Stopzeichen vor einem falschen Weg und ein Mahnruf zum persönlichen Heilungsgprozess.»
Literaturhinweise
Biografischer Zugang:
- Tilman Moser, Gottesvergiftung, Suhrkamp Taschenbuch, 1980.
Der Autor, selbst Psychoanalytiker und Therapeut, kehrt als erwachsener Mann im Zug einer schweren Krise zurück an den Ort, wo er aufgewachsen ist und verfasst da eine schonungslose Abrechnung mit dem Gott seiner Kindheit, der seine «schlimmste Kinderkrankheit» war und seine «kleine Seele vergiftet» hat. Was Missbrauch von Religion heisst, wird hier besonders deutlich.
Dieses Buch ist sehr empfehlenswert. Viele Passagen bieten ausgezeichnete Diskussionsgrundlagen.
Religiöse (ekklesiogene) Neurose, destruktive Gottesbilder:
- Helmut Hark, Religiöse Neurosen, Ursachen und Heilung, Stuttgart 1984.
- Karl Frielingsdorf, Dämonische Gottesbilder, Ihre Entstehung, Entlarvung und Überwindung, Mainz 1992.
- Karl Frielingsdorf, Der wahre Gott ist anders. Von krankmachenden zu heilenden Gottesbildern, Mainz 1997. (Kurzfassung von Dämonische Gottesbilder im Taschenbuch)
- Erwin Ringel, Alfred Kirchmayr, Religionsverlust durch religiöse Erziehung. Tiefenpsychologische Ursachen und Folgerungen, Wien 1986.
- Anton A. Bucher, Braucht Mutter Kirche brave Kinder? Religiöse Reifung contra kirchliche Infantilisierung, München 1997. Das Buch beschreibt die Mechanismen einer kirchlichen Infantilisierung und analysiert ihre aktuellen psychischen Auswirkungen. Neue Reifungsschritte werden vorgeschlagen.
Aktuelle religiöse Situation, Religiöse Gruppierungen, Fundamentalismus:
- Georg Schmid, Im Dschungel der neuen Religiosität. Esoterik, östliche Mystik, Sekten, Islam, Fundamentalismus, Volkskirchen, Zürich 1992. Besonders hilfreich zur Frage, wie sich die religiöse Gegenwart verstehen lässt und ein sehr hilfreiches Kapitel zur Analyse des christlichen Fundamentalismus.
- Georg Schmid, Plädoyer für ein anderes Christentum. Nach 2000 Jahren anders erleuchtet, anders mündig, anders denken, Zürich 1998.
- Jacques Vontobel (Hrg), Das Paradies kann warten, Gruppierungen mit totalitären Tendenzen, Zürich 1992.
Religion und Sexualität, Religiöse Sexualfeindlichkeit:
- Herbert Haag, Katharina Elliger, Stört nicht die Liebe, Die Diskriminierung der Sexualität – ein Verrat an der Bibel, Olten 1986.
- Herbert Haag, Katharina Elliger, Wenn er mich doch küsste. Das Hohe Lied der Liebe mit Holzschnitten von Robert Wyss.
- Manfred Josuttis, Gottesliebe und Lebenslust, Beziehungsstörung zwischen Religion und Sexualität, Gütersloh 1994.
- Hans van der Geest, Verschwiegene und abgelehnte Formen der Sexualität – eine christliche Sicht, Zürich 1990.
- CD (AM 1077-2), Gefilte Fisch: Gefilte Liebe, erotische, kulinarische Witze und Liebeslieder. Erotische Liebeslieder aus dem Judentum, Salcia Landmann spricht dazu über Witz, Erotik und Sexualität im Judentum.
Kirchengeschichte:
- Michel Clévenot, Geschichte des Christentums, edition exodus. Bis jetzt (1998) sind elf der zwölf Bände auf deutsch erhältlich, erlebnishaft-narrativ, kritisch, sehr gut lesbar.
Weitere verwendete Literatur:
- Christian Bühler, Die Bibel macht Schule. Biblische Texte im Unterricht mit Jugendlichen und Erwachsenen, Knesebeck 1996, (Erev Rav-Hefte. Biblische Erkundungen Nr. 3).
- Rochus Zurmond, Die Zehn Gebote, in: Bibel und Befreiung, Beiträge zu einer nichtidealistischen Bibellektüre, Freiburg 1985.
- Furchtbarer Gott – lieber Gott? Zu einer falschen Gegenüberstellung von Altem und Neuem Testament, in: Neue Wege, April 1988.
- Anne de Vries, Die Kinderbibel. Die Worte der Heiligen Schrift für Kinder erzählt, Konstanz, Bahn 1955.
- Hans Peter Duerr, Nacktheit und Scham, Der Mythos vom Zivilisationsprozess, Frankfurt a.M. 1988.
Nachwort
Dieser Text ist eine Kursunterlage. Ich denke mir, dass die Anleitung des Autors für Kursleiter für die Leser ausserhalb des Kurses von allgemeinem Interesse sein dürften. Red.
In der Arbeit am Thema «Destruktive Religion» geht es darum, sich konfrontieren zu lassen mit zerstörerischen, lebenshemmenden Anwendungen von Religion. Zerstörerische Anwendungen sollen wahrgenommen werden, es sollen gewisse Abläufe und Ursachen von ‹Destruktiver Religion› verständlich gemacht werden.
Es geht nicht darum, Religion grundsätzlich als destruktiv darzustellen. Im Gegenteil: Indem missbräuchliche Anwendungen von Religion als destruktiv bezeichnet werden, wird deutlich,was die eigentliche, befreiende und lebensspendende Stossrichtung von Religion ist. Ein Kursanlass über «Destruktive Religion» hat letztendlich das Ziel, ein positives, unverfälschtes, lebendiges und kreatives Verhältnis zu Religion zu stärken.
Eine Konfrontation mit «Destruktiver Religion» soll anregen, die eigene religiöse Prägung, die eigene Biografie zu hinterfragen: Inwiefern haben wir in unserer eigenen religiösen Biografie lebensfeindliche Tendenzen am eigenen Leib oder in unserem Umfeld erfahren? Wie sind wir damit umgegangen, wie haben wir diese Erfahrungen verarbeitet? Dabei müssen die unterschiedlichen Motive, Einstellungen und Grundhaltungen der Teilnehmer berücksichtigt werden:
- Wir können mit Menschen zu tun haben, welche die Erfahrungen mit «Destruktiver Religion» so verarbeitet haben, dass sie grundsätzlich kritisch geworden sind gegenüber allem, was mit Religion zu tun hat.
- Ebenso können wir mit Menschen zu tun haben, welche in ihrer aktuellen Situation an «Destruktiver Religion» leiden – ohne ein Instrumentarium zu haben, um sich dagegen zu wehren. In diesem Fall kann ein Kursabend recht schmerzhafte Erfahrungen ans Licht bringen – eine besondere Herausforderung für die Kursleitung, welche ein hohes Mass an Sensibilität und ein gewisses therapeutisches Flair verlangt.
- Und schliesslich werden wir es mit Menschen zu tun haben, welche einengende und ausgrenzende religiöse Vorstellungen in sich tragen, sehr strenge Forderungen an sich und an ihre Mitmenschen stellen, ohne ein Bewusstsein zu haben für die negativen Auswirkungen. Eine besondere Herausforderung für die Kursleitung wird darin bestehen, darauf zu achten, wie TeilnehmerInnen mit so unterschiedlichen Einstellungen mit dem Thema umgehen werden.
Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass Menschen oft mit Abwehr reagieren, wenn sie von «Destruktiver Religion» hören: Es kann doch einfach nicht sein, dass Religion krank macht! Oft kommt diese Abwehr in der Form von Projektionen zum Ausdruck: Es kann zwar nicht geleugnet werden, dass es «Destruktive Religion» gibt, sie kommt aber immer nur bei den ‹Anderen› vor: Für die Protestanten bei den Katholiken, für die landeskirchlich Orientierten bei sogenannten ‹Sekten›, für die ‹Evangelikalen› bei den Muslims… Nun werden im Materialteil konkrete Beispiele vorgestellt, welche «Destruktive Religion» beschreiben. Gerade weil diese Beispiele konkret sind, besteht die Gefahr, dass solche Projektionsmechanismen entstehen. Es wird erkannt, dass in einer konkreten religiösen Erfahrung innerhalb einer bestimmten religiösen Gruppierung destruktive Mechanismen auftreten – aber eben nur gerade dort, innerhalb dieser bestimmten religiösen Gruppe. Solche Abwehr- und Projektionsmechanismen sollten verhindert werden. Es sollte deutlich gemacht werden, dass es in der Arbeit an diesem Thema nicht in erster Linie darum geht, bestimmte religiöse Gruppierungen zu verurteilen, sondern dass uns die Bespiele anregen sollen, nach ähnlichen, vielleicht weniger extremen Erfahrungen in unserem eigenen Bereich zu suchen.
Eine gefährliche, aber in christlichen Kreisen weit verbreitete Projektion liegt in einer falschen Trennung von «Altem» und «Neuem» Testament. Oft hört man ChristInnen von einem gewalttätigen, rachsüchtigen, ja sadistischen und natürlich frauenfeindlichen Gott des «Alten» Testaments sprechen – und diesem wird dann ein sanfter, lebens- und frauenfreundlicher Jesus des «Neuen» Testaments entgegengehalten. Solche judenfeindlichen Projektionen haben im Christentum eine lange Tradition – mit verhängnisvollen Auswirkungen. Damit sollte endlich einmal aufgehört werden. Der Gott des «alten» Testaments ist nicht destruktiv, sondern in höchstem Mass freiheitsliebend. Destruktiv sind die falschen christlichen Projektionen auf die jüdische Tradition.
Woher wir diesen Text haben
Der Webmaster der LSBK besuchte damals den «Evangelischen Theologiekurs» in Basel. Den Text «Destruktive Religion» entnahm er – mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Projektleitung des evangelischen Theologiekurses – den Kursunterlagen zur Themeneinheit «Religion und Biographie»
Informationen über den – sehr empfehlenswerten – evangelischen Theologiekurs sind erhältlich bei:
Fokus Theologie
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