Predigt Matthäus 25,31-46

Namensfeier der OKE am 19. November 2023

Gemilut Chasdim

Matthäus 25,31-46

31Wenn aber der °Mensch in seinem °göttlichen Glanz kommt und alle °Engel mit ihm, dann wird er sich auf seinen himmlischen Richterstuhl setzen. 32Und alle °Völker werden sich versammeln und sich seinem Gericht stellen. Er wird die Menschen voneinander scheiden, wie ein Hirte die Schafe von den Böckchen trennt. 33Er wird die Schafe zu seiner Rechten aufstellen und die Böckchen zu seiner Linken. 34Dann wird die königliche Person denen zur Rechten sagen: ›Kommt heran, ihr Gesegneten °Gottes, Vater und Mutter für mich; ihr werdet in der °Welt Gottes leben, die von Anfang der Welt an für euch geschaffen wurde. 35Ich war hungrig, ihr gabt mir zu essen; ich war durstig, ihr gabt mir Wasser; ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. 36Ich war nackt, ihr habt mich gekleidet; ich war krank, ihr habt mich gepflegt; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.‹ 37Dann werden ihm die Gerechten antworten: ›°Herr, wann haben wir dich hungern sehen und dir zu essen gegeben, oder durstig, und gaben dir Wasser? 38Wann haben wir dich in der Fremde gesehen, und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? 39Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?‹ 40Und die königliche Person wird ihnen antworten: ›Wahrhaftig, ich sage euch, alles, was ihr für eines dieser meiner geringsten Geschwister getan habt, habt ihr für mich getan‹. 41Dann wird sie zu denen zur Linken sagen: ›Geht fort von mir, ihr seid fern von Gott; geht in das endlose Feuer, das von Gott für den °Teufel und die, die ihm dienen, bestimmt ist. 42Ich war hungrig, und ihr gabt mir nicht zu essen, ich war durstig, ihr gabt mir kein Wasser. 43Ich war fremd, und ihr nahmt mich nicht auf, ich war nackt, und ihr habt mich nicht gekleidet, ich war krank und im Gefängnis, und ihr habt euch nicht um mich gekümmert.‹ 44Dann werden auch sie antworten: ›°Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder fremd oder nackt oder krank oder gefangen gesehen und haben dich nicht °versorgt?‹ 45Dann wird der himmlische Mensch ihnen antworten: ›Wahrhaftig, ich sage euch, alles, was ihr für eine oder einen von diesen Geringsten nicht getan habt, habt ihr auch für mich nicht getan.‹ 46Und sie werden in die °endlose Strafe fortgehen, die Gerechten aber ins °ewige Leben.«

Liebe Freunde,

ein Text über das letzte Gericht! An so einer freudigen Feier! Ich dachte erst mal, das kann ja wohl nicht sein… Es hätte doch auch etwas anderes sein können, oder? So, die Hochzeit zu Kana oder so – da fliesst der Wein, und es wird gefeiert. Das wäre doch was gewesen!

Aber nein. Ein Gerichtstext.

DER Gerichtstext.

Ich weiss noch, als Teenager war ich einige Jahre lang mit meiner Mutter in einer sehr strengen christlichen freikirchlichen Gemeinschaft. Nicht, dass alle so sind, aber eben dort, wo ich war. Dort war oft die Rede vom letzten Gericht, von Sünden und Androhungen der Hölle und ewigen Qualen.

Viel Angstmache, und es wurden die lebendigsten Bilder gemalt damit auch ja auf das hört, was die Gruppenleitung uns sagte.

Man musste den „rechten Glauben“ haben, die richtigen Worte sagen, das richtige Bekenntnis aufsagen und keine Fragen stellen – sonst wurde es eng. Ja, auf den per Definition „richtigen Glauben“ wurde sehr viel, oder sogar aller Wert gelegt. Das, was man mit „Werksgerechtigkeit“ bezeichnete, wurde abgewertet und abgelehnt, als irgendein Relikt, das man entweder den Katholiken oder den Juden zuschreiben konnte – aber das für das Heil völlig irrelevant war. Man sollte nur den richtigen Glauben öffentlich bekennen

Was hiess das für mich?

Eigentlich ein ziemlicher Stress, denn ich machte mir ständig Sorgen. War mein Glaube konform genug? Und, wenn ich Fragen stellte, oder zweifelte, reichte dann ein Lippenbekenntnis, um nicht verurteilt zu werden, falls ich dann doch heute noch sterben sollte? Denn das war auch so ein Punkt: man sollte stets bereit sein, dass man zu jedem Zeitpunkt sterben könnte und dann vor seinen Schöpfer treten könne und gerichtet werden würde.

Wie gesagt, das letzte Gericht war nicht so wirklich mein Freund, und ich sah G-tt nicht wirklich als liebenden G-tt und gütigen Vater.

Das eine hat sich mit dem Erleben vom Yom Kippur geändert, das andere mit dem Entdecken dieses Textes.

Da geht es ja um eben dieses letzte Gericht.

Doch werden die Menschen hier nicht danach getrennt, ob sie dogmatisch einwandfreies, anerkanntes Glaubensbekenntnis rezitiert haben. Es sind nicht Bekenntnis und Dogmatik die hier entscheidend sind, sondern die in Tat umgesetzte Nächstenliebe.

Hierbei muss ich an einen Vers aus Dvarim, Deuteronomium 30 denken. „Ich rufe heute Himmel und Erde euch gegenüber als Zeugen auf: Ich habe euch heute das Leben und den Tod vorgelegt, den Segen und den Fluch. Wähle das Leben, damit du lebst und deine Nachkommen auch leben können!“

Wir sollen das Leben wählen! Auf das wir das Leben geschenkt bekommen.

Zu dieser in die Tat umgesetzte Nächstenliebe rief Jesus auch in der Bergpredigt auf, als er sagte, dass er nicht gekommen sei, die Torah und die Propheten zu abzuschaffen, und erläuterte dazu später, dass das höchste Gebot sei, G-tt zu lieben und seinen Nächsten wie sich selbst. An anderer Stelle der Bergpredigt fügte er noch hinzu, „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen ebenso. (Mt 7,12)“

Damit ging Jesus durchaus mit den Lehrmeinungen seiner Zeit.

Ein Midrasch erzählt, wie einst ein Nichtjude vor Rabbi Schammai trat und zu ihm sprach: „Mache mich zu einem Proselyten unter der Bedingung, dass du mich die ganze Tora lehrst, während ich auf einem Fuss stehe.“ Da stiess ihn Schammai mit einer Elle weg. Daraufhin ging er zu Rabbi Hillel. Der machte ihn zum Proselyten und sprach zu ihm: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht an. Das ist die ganze Tora, alles andere sind Kommentare. Geh und lern sie!“ (Schabbat 31a)

Die verschiedenen Liebestaten, oder Liebeswerke, oder konkrete Nächstenliebe, die in unserem Text erwähnt werden, beschreiben Menschen in verschiedenen Notlagen. Menschen, die uns nicht kalt lassen können (oder sollten); Menschen, die marginalisiert sind und die unsere Mitmenschlichkeit herausfordern. Unser Verhalten ihnen gegenüber ist letztlich das allein entscheidende Kriterium.

Eine, die dementsprechend so menschlich gehandelt hat, ist die Heilige Elisabeth, die hier auf der Ikone zu sehen ist – umgeben vom all denen, die es schwer haben, deren Leben nicht einfach ist. Menschen, die Hilfe brauchen – von einer alten Frau über eine geflüchtete Person zu einem queeren Menschen. In ihrer Geschichte, oder Legende, wollte Elisabeth trotz eines Verbotes den Armen und Pestkranken in einem Korb Brot bringen. Als sie entdeckt wurde, und das Tuch auf ihrem Korb hochgehoben wurde, um sie zu entlarven, befanden sich statt des Brotes nur Rosen darin.

Besuche bei Kranken, bei Armen – eine ganz konkrete Art der Nächstenliebe.

Ein anderer Akt der Nächstenliebe, der Barmherzigkeit, der mir besonders viel bedeutet, ist die schwarze Stele, die hier in der Kirche steht. Auf ihr steht „Bring Them Home“, „Bringt Sie nach Hause“ -auf Englisch, Hebräisch und Arabisch. Es ist eine Kampagne der Menschlichkeit, gegen das Vergessen, der Solidarität, zusammen mit der Israelitischen Gemeinde Basel.

Es ist ein Erinnerungsort für die am 7. Oktober über 200 verschleppten Menschen – Menschen allen Alters, jeden Geschlechts, aller Hautfarben und Abstammungen und verschiedener Religionen und vieler verschiedener Nationalitäten – es hätte jede:r von uns sein können. Es ist ein Akt der Menschlichkeit, der Nächstenliebe – keine politische Aussage, und bedeutet auch nicht, dass das Leid der palästinensischen Bevölkerung vergessen oder minimiert wird.

Was diese Stele – zumindest für mich- auch bedeutet, ist dass dieser Ort, diese Kirche, safe ist. Nicht nur als queerer Mensch, sondern auch als jüdischer Mensch. Ja, ich habe bisher meist nur von meinen indigenen Wurzeln geredet, die von meinem Vater kommen.

Aber ich bin auch jüdisch – und die Wichtigkeit dessen, und die Nähe dazu ist mir im letzten Monat wieder klar geworden. Aber das ist eine andere Geschichte. Dieser letzte anderthalb Monat war sehr schwer – ein Monat zwischen dem Warten von Nachrichten, dem Nachfragen nach dem Ergehen von anderen jüdischen Freunden, und der Stille – dem Realisieren, dass man alleine ist.

In einem der Kommentare zu diesem Text stand die folgende Geschichte:

Ein Journalist aus Schlesien berichtet folgende Geschichte aus dem Jahr 1933: Nachdem ein Pfarrer der „Deutschen Christen“ im Gottesdienst die Arierparagraphen verlesen hat, fordert er dreimal die Juden in der Kirche auf, dieselbige zu verlassen. Schliesslich steigt Jesus vom Kreuz herab und verlässt die Kirche, während Jesus sagt „Wahrhaftig, ich sage euch, alles, was ihr für eine oder einen von diesen Geringsten nicht getan habt, habt ihr auch für mich nicht getan“.

Eine Kirche, die sich christlich genannt hat, eine Welt, die sich christlich genannt hat, hat passiv zugeschaut bei dem, was damals geschah. Und sie schaut auch heute zu, bei dem, was passiert, und schaut auch heute zu bei dem rasant steigenden Antisemitismus, von Graffitis mit „Tod den Juden“ in Zürich bis „Merci Hamas“ in Genf und anderem, das ich hier gar nicht alles aufzählen möchte.

Von Unwissenheit kann hier niemand reden.

Und doch ist es nicht das erste Mal, dass ich mich über die Stille wundere. Ich weiss sicher nicht über alles Bescheid, was passiert, was gemacht wird oder nicht, was gesagt wird, oder nicht – und dennoch…

Zu den marginalisierten Menschen, die oft Hilfe, Beistand, Rückhalt brauchen, gehören auch queere Menschen. Ganz besonders trans* Menschen, nicht-binäre Menschen, intergeschlechtliche Menschen. Morgen ist der Transgender Day of Remembrance, an welchem den Opfern von Hass gegen trans* und gender-diversen Menschen gedacht wird. Im vergangenen Jahr sind diesem Hass 320 Menschen zum Opfer gefallen, zum ersten Mal jetzt auch in Belgien und der Slowakei.

Und während es dieses Jahr in der Schweiz kein Todesopfer zu beklagen gibt, gibt es dennoch Parteien, Gruppierungen und Menschen, die ungeniert gegen andere hetzen, die einfach nur sich selbst sein wollen.

Und auch hier fällt mir die Stille auf.

Dabei ist es nichts fundamental Politisches, sich gegen Hass und Hetze auszusprechen, und diesem Einhalt zu gebieten.

„Wahrhaftig, ich sage euch, alles, was ihr für eines dieser meiner geringsten Geschwister getan habt, habt ihr für mich getan“. Und: „Wahrhaftig, ich sage euch, alles, was ihr für eine oder einen von diesen Geringsten nicht getan habt, habt ihr auch für mich nicht getan“.

Nicht die Dogmatik und nicht das Bekenntnis entscheiden, sondern die Praxis der Nächstenliebe, die unabhängig von Verwandtschaftsverhältnissen oder Zugehörigkeitsverhältnissen jedem gilt, und ausdrücklich denen, die übersehen und marginalisiert werden. Ihnen gilt der Blick des Weltenrichters.

Kein Leben ist in seinen Augen verloren. Die Pointe hier ist, dass jene, die dem Anspruch des Weltenrichters entsprechen, ihm in der Verkündigung des Evangeliums gar nicht begegnet sein mussten, um seinen Willen zu tun und seinem Anspruch engagierter Mitmenschlichkeit zu entsprechen. Es genügte, dass sie Not leidenden Menschen begegnet sind, um zu wissen, was zu tun ist.

G-tt ist G-tt aller Menschen, und G-tt ist es, der diesen für alle Menschen gültigen Massstab der Mitmenschlichkeit anlegt, und in unserem Text ist es allein das mitmenschliche Handeln oder seine Verweigerung, das über Heil und Unheil entscheidet. Die Christen haben hier keinen Bonus. Nicht sie, sondern der G-tt verteilt die Plätze.

Das ist es, was ich am Ende so befreiend finde, weswegen ich dann, trotz allem früher Gelerntem und Gehörtem, keine Angst mehr zu haben brauche.

Ich selbst sein kann. So wie ich geboren wurde, und so wie ich bin.

Mit meinen Fragen, mit meinen Zweifeln. Mit meinen Sehnsüchten und Wünschen, mit meiner Sexualität und meiner Identität. Nichts von dem wird mich verdammen.

Darum freue ich mich umso mehr, hier und heute andere Menschen zu sehen, die nun auch hier stehen, sich selbst sind, und einen Segen für sich und ihren Namen empfangen.

Amen.

Ari Lee

Ari Lee – Autor & Makeup Artist und Seelsorger

Arbeitet an der Offenen Kirche Elisabethen