Torn – Deutsche Zusammenfassung

Von Pfr. Dr. Peter Aschoff (peregrinatio)

Hin- und hergerissen

Torn

Rowan Williams hat es empfohlen, Brian McLaren fand es stark, und Tony Campolo hat es zur Pflichtlektüre erklärt: Torn. Rescuing the Gospel from the Gays-vs.-Christians Debate von Justin Lee. Ich werde in den nächsten Wochen den einen oder anderen Erkenntnisgewinn aus der Lektüre hier posten.

Bisher war es ein grosser Gewinn. Lee schreibt sehr persönlich, wie er in einem sehr liebevollen christlichen Elternhaus gross wurde und als Jugendlicher entdeckte, dass er homosexuell ist. Damit begann die Suche nach Erklärungen, nach Verständigung, nach einer überzeugenden Perspektive für sein Leben als bewusster Christ. Der Mann ist hochintelligent und hat eine gute Art zu schreiben. Nicht die schlechteste Ausgangslage!

Torn (2) – Der lange Weg zum offenen Wort

Justin Lee erzählt in Torn. Rescuing the Gospel from the Gays-vs.-Christians Debate seine Lebensgeschichte: Er wächst in einem liebevollen Elternhaus und in einer lebendigen, konservativen Gemeinde auf. Er hat Erfolg in der Schule und ist überall beliebt. Sein Lebenstraum ist es unter anderem auch, einmal zu heiraten und seinerseits eine Familie zu gründen. Doch dann stellt er fest, dass er homosexuell ist.

Lange kann er sich gar nicht eingestehen, wie er tatsächlich empfindet. Er freundet sich mit einem Mädchen an und die beiden gehen miteinander aus. Als ihm ein Freund offenbart, er sei bisexuell, versucht er es eine Weile mit dieser Selbstbeschreibung; aber je länger, desto deutlicher wird ihm klar, dass er sich definitiv nicht zu Frauen hingezogen fühlt. Er spricht mit der Freundin darüber, irgendwann nach langem Zögern auch mit seinen Eltern.

Die nächsten Jahre sind geprägt von der Hoffnung, dass sich alles noch ändert, und der Suche nach Mitteln und Wegen dazu. Er berichtet von Seelsorgegesprächen, Selbsthilfegruppen und allen möglichen Büchern. Seine Eltern stehen zu ihm, teilen und unterstützen den Wunsch nach Veränderung und haben die Sorge, dass ihr Sohn massiv abgelehnt werden könnte, ganz besonders im Umfeld der Gemeinde.

Am Ende des vierten Kapitels zählt Lee unterschiedliche Aussagen auf, mit denen Eltern besser nicht auf die Offenbarung reagieren sollten, dass ihr Kind homosexuell ist:

  • „Sag das bloss niemand“ wäre ein Satz, der Mensch in Angst und Isolation treibt und verhindert, dass sie lernen, offen über sich zu reden.
  • „Du bist nicht so wie diese Leute“ bezieht sich oft auf negative Klischees, die Eltern mit dem Begriff „homosexuell“ assoziieren, oft kann das bei dem Betroffenen die Sorge auslösen, dass es all die negativen Urteile auch zu erwarten hat, falls es seine Orientierung nicht unterdrückt oder verleugnet.
  • „Wie kannst du uns so etwas antun?“ ist ein Satz, mit dem die Familie dem Kind den schwarzen Peter zuschiebt und sich selbst als Opfer betrachtet, statt die in einem solchen Moment nötige Hilfe und Unterstützung zu bieten. Eltern machen statt ihres Kindes sich selbst zum Mittelpunkt.
  • „Was haben wir nur falsch gemacht?“ tappt auch in die Schuld-Falle, nur umgekehrt. Und wieder schwächt es die Beziehung zum eigenen Kind, die in diesem kritischen Moment doch gestärkt werden müsste.

Die letzte Reaktion hat mit der Frage nach den Ursachen von Homosexualität zu tun. Diesem Thema widmet sich Lee im nächsten Kapitel.

Torn (3): Warum sind manche Menschen homosexuell?

Für Justin Lee ist das aufgrund seiner Lebensgeschichte eine Frage geworden. Der eigene Wunsch nach Veränderung und die Forderungen aus seinem konservativ-evangelikalen Umfeld haben immer auch mit bestimmten Erklärungen des Phänomens Homosexualität zu tun. Zugleich war für Lee klar, dass seine persönliche Erfahrung bestimmte Theorien nicht bestätigt. Dazu zählen die folgenden drei Behauptungen, die er im fünften Kapitel von Torn. Rescuing the Gospel from the Gays-vs.-Christians Debate referiert (ich gebe das hier sehr gerafft und damit potenziell verkürzt wieder, bevor sich also jemand empört, bitte erst im Original nachlesen!):

1. Menschen sind homosexuell, weil sie sich dazu entschlossen haben. Nichts hätte ihm aufgrund seiner Herkunft ferner gelegen als das, schreibt Justin Lee dazu.

2. Menschen werden zu Homosexualität verführt: Auch das trifft in seinem Fall nicht zu, und so ist es wohl auch in den meisten anderen Fällen nicht.

3. Es liegt am Verhältnis zu den Eltern: Diese These stellte der Psychoanalytiker Irving Bieber in den sechziger Jahren auf, später wurde sie von der Theologin und Psychologin Elizabeth Moberly, später dann von Joseph Nicolosi vertreten: Ein schwieriges Verhältnis zu einem distanzierten Vater (und eine „gluckende“ Mutter) verursachen bei Heranwachsendes ein inneres Defizit, das dann durch homosexuelles Begehren kompensiert wird. Nun ist das ja keine ganz seltene Konstellation, die auch keineswegs in der Mehrheit der Fälle die beschriebene Wirkung entfaltet, und Justin Lee ist der lebende Gegenbeweis. Dabei hätte er diese Thesen gerne geglaubt, weil sie die theoretische Grundlage für viele Therapiebemühungen bilden. Bei seinen Nachforschungen fand Justin Lee aber keine glaubwürdigen Belege für die Stichhaltigkeit dieses Ansatzes.

Zuletzt wendet sich Lee von der Psychologie zur Biologie. Mehrere Studien kamen zu dem Ergebnis, dass bei Homosexuellen bestimmte Strukturen im Gehirn eher dem ähneln, was in der Regel beim jeweils anderen Geschlecht als typisch gilt. Des bedeutet nun nicht, dass schwule Männer ein Frauengehirn hätten und lesbische Frauen ein Männergehirn, aber es gibt eben charakteristische Ähnlichkeiten. Sie könnten vom Hormonspiegel während der Schwangerschaft beeinflusst worden sein. Es ist anscheinend nicht ganz sicher, was nun Ursache ist und was Wirkung, die meisten Forscher gehen aber eher davon aus, dass die Unterschiede in der Gehirnstruktur schon von Geburt an da waren. Sie wirken sich auf Sprachvermögen und räumliche Vorstellung aus – an diesen Punkten unterscheiden sich heterosexuelle Frauen und Männer ja bekanntermassen. Kleinere Unterschiede am Körper wie Länge der Finger, die Reaktionszeit beim Blinzeln oder die Häufigkeit von Linkshändigkeit wurden auch festgestellt.

Dazu kommt der „Ältere-Bruder-Effekt“: Statistisch gesehen ist Homosexualität häufiger bei Männern anzutreffen, die mindestens einen älteren Bruder von der gleichen Mutter haben. Er ist auch dann nachweisbar, wenn der ältere Bruder nie im gleichen Haus lebte. Zu bestimmten Zeiten der vorgeburtlichen Entwicklung könnte das den Hormonhaushalt der Mütter beeinflusst haben und damit die Gehirnstruktur des werdenden Kindes. Diese These vertritt zum Beispiel Simon LeVay.

Lee hält den biologischen Ansatz für plausibler, derzeit aber ist noch nichts zweifelsfrei erwiesen. So viel sollten sich alle Beteiligten eingestehen. Nun besteht die grosse Versuchung, dass jeder sich die Studie herauspickt, die den eigenen Standpunkt bestätigt und den gegnerischen „widerlegt“. Nur sind diese Überzeugungen oft genug theologische Urteile, die auf einer ganz anderen Ebene liegen als empirische Studien (zur Diskussion im deutschsprachigen Raum vgl. diese Übersicht). Welche Blüten das treiben kann, das zeigen Justin Lees Erfahrungen mit der „Ex-Gay-Bewegung“, die er im folgenden Kapitel ganz ausführlich schildert.

Torn (4) – Erfahrungen mit der „Ex-Gay-Bewegung“

Justin Lees Eltern, damit beginnt das sechste Kapitel von „Torn“, nehmen ihn auf eine Konferenz über Homosexualität mit. Dort hört er die im letzten Post kurz beschriebene These, es handele sich um die (prinzipiell therapierbare) Folge einer gestörten Elternbeziehung. Seine Einwände, das treffe unter anderem auch auf seine Lebensgeschichte nicht zu, finden kein Gehör. Am Ende fragt er sich:

Was für ein Dienst nimmt jemanden, der denkt, er hatte ein wunderbares Verhältnis zu seinem Vater, und überzeugt ihn davon, dass es in Wirklichkeit schlecht war? Das fühlte sich für mich immer weniger nach einem Werk Gottes an.

Er begegnet einer merkwürdigen Sprachverwirrung in der Ex-Gay-Szene. „Homosexuell“ wurde nicht (wie allgemein üblich) so verstanden, dass jemand sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt, sondern als – in der Regel recht exzessiv ausgelebtes – sexuelles Verhalten. Folglich bezeugten etliche eine Veränderung ihres Lebensstils und der Ausstieg aus einer bestimmten kulturellen Szene, aber das bedeutete keineswegs, dass sich damit auch die sexuelle Orientierung verändert hätte. In der Regel war das offenbar nicht der Fall. Dennoch glaubten viele wohlmeinende Christen, dass tausende aus ihrer Homosexualität ausgestiegen seien und es damit auch erwiesen sei, dass ihr Freund oder Angehöriger darauf hoffen dürfe.

Lee erzählt in dem Kapitel unter anderem von seinem Freund „Terry“, der von diesen Versprechen angezogen verschiedene Therapiebemühungen unternahm. Terry war verwitwet, aber schon seine erste Ehe war er in der vergeblichen Hoffnung eingegangen, dass er seine Frau, die ihm eine gute Freundin war, im Laufe der Zeit körperlich anziehend finden würde. Nun riet man ihm zu, es erneut zu versuchen. Terry heiratete wieder, aber die zweite Ehe zerbrach, weil Terrys Empfinden sich nicht änderte. Er wandte sich verbittert über die Augenwischerei von der Kirche ab.

Wo die Wirklichkeit dem Wunschdenken geopfert wird (und man das mit „Glauben“ verwechselt), da wird es schwierig, ehrlich zu bleiben. Lee erinnert an eine Reihe von Skandalen der Ex-Gay-Bewegung: Colin Cook von „Homosexuals Anonymous“, der sich 1982 für geheilt erklärte, aber einem Zeitungsbericht zufolge noch acht Jahre später sexuellen Kontakt hatte zu Leuten, die er begleitete. Michael Busseé und Gary Cooper von Exodus International, die die dürren Erfolge ihrer Arbeit ins denkbar beste Licht zu rücken wussten – und sich dann ineinander verliebten. John Paulk, der Vorzeigemann von Exodus International und Focus on the Family wurde von einem Aktivisten in einer Schwulenbar in Washington D.C. erkannt. Inzwischen hat Exodus International deutlich leisere Töne angeschlagen, damit aber auch etliche Mitgliedsverbände verloren.

Traurig bleibt in jedem Fall, dass allzu vollmundige Versprechungen vielen Menschen so viel Leid zugefügt haben, und dass das Versteckspiel offenbar noch nicht zu Ende ist.

Torn (5): Ein schwerer Entschluss

Der besondere Charme dieses Buches liegt darin, dass Justin Lee seine Leser mitnimmt auf einen Weg. Es ist keine abstrakte, trockene und scheinbar emotionslos-objektive Theorie, sondern eine aufrichtige, intensive Suche, die über verschlungene Pfade führt. Man bekommt nicht einfach ein Resultat präsentiert, sondern vollzieht beim Lesen die einzelnen Schritte nach, die dahin führten, und was es den Autor kostete.

Nach seiner Abkehr von der Ex-Gay-Bewegung und der bis dahin verlockenden Vorstellung, er könne „hetero“ werden, sieht Lee sich vor der Entscheidung, seine Homosexualität zu verleugnen oder zu unterdrücken, sich auf eine homosexuelle Beziehung einzulassen, oder allein zu bleiben. Aber das würde nicht nur den Verzicht auf Sex bedeuten, sondern auch auf innige Nähe, auf Anerkennung und ungeteiltes Dasein füreinander. Sogar Paulus, der doch die Ehe mehr als ein Zugeständnis betrachtet hatte, war klar, dass wenige seinem Ideal der Ehelosigkeit gewachsen waren, schreibt Lee und fügt hinzu:

Menschen heiraten nicht, weil sie dann das Recht auf Sex haben; sie heiraten aus Liebe und um der Gelegenheit willen, mit jemand anders ein gemeinsames Leben aufzubauen. Sie heiraten, weil es dann, wenn alles im Leben schief geht und die Probleme am grössten sind, tröstlich ist, wenn man eine Hand halten kann. Weil in der Dunkelheit der Nacht ein Bett sich viel weniger leer anfühlt, wenn da jemand neben dir liegt. (S. 103)

Aber eine echte Alternative scheint nicht in Sicht. Über die Frage, ob denn wenigstens eine nicht-sexuelle, romantische Beziehung zu einem Mann erlaubt sei, schweigt sich die Bibel aus. Vielleicht gibt es da ohnehin keinen grossen Unterschied? Ist also das zölibatäre Leben der Wille Gottes? Lee schreibt:

Ich habe keine Worte, die beschreiben könnten, wie sehr diese Frage auf mir lastete. Ich wusste, ich könnte mich nicht weiterhin als Christ bezeichnen, wenn ich nicht bereit war, alles hinzunehmen, was Gott für mich geplant hatte, selbst wenn das ein Leben in Einsamkeit bedeutete. Ich wusste auch, ich konnte Gott nicht belügen und so tun, als wäre mir das alles recht, um dann nach einer anderen Lösung zu suchen. Gott kennt dein Herz. Du kannst Gott nicht belügen. … schliesslich kam ich zu der unausweichlichen Schlussfolgerung: Ich musste Gott folgen, was auch immer das hiess. (S. 104)

Er spricht das in einem sehr ehrlichen, berührenden Gebet aus und spürt, wie eine Woge des Friedens über ihn kommt.

Torn (6): Vom braven zum bösen Buben

Die Geborgenheit, die Justin Lee nach seinem Entschluss, Gott bedingungslos zu vertrauen, erlebt, muss sich wenig später in verschiedenen Situationen bewähren. Davon handeln die nächsten beiden Kapitel von Torn. Rescuing the Gospel from the Gays-vs.-Christians Debate.

Justin meldet sich bei einem Pastor seiner Baptistengemeinde zu einem Seelsorgegespräch an. Dort beschreibt es seine Situation: Er ist homosexuell und die Ex-Gay-Geschichte ist nicht sein Fall. Auf die Frage, was er nun tun solle, antwortet sein Gegenüber, solange er sich auf kein Verhältnis mit einem anderen Mann einlasse, dürfe er gern weiter zum Gottesdienst kommen. Andernfalls freilich nicht. Er wird, so kommt das an, ab sofort lediglich unter Vorbehalt geduldet.

An der Uni sind inzwischen Gerüchte im Umlauf, er sei schwul. Fromme Kommilitonen fangen in scheinbar unverfänglichen Gesprächen plötzlich an, einschlägige Bibelstellen zu zitieren. Trost findet Justin derweil in einer christlichen Online-Community, in der er unter einem Pseudonym angemeldet ist und so einfach ein Christ unter anderen sein kann. Über sein Privatleben teilt er dort nur wenigen Leuten irgendetwas mit. Umso überraschter ist er, als er von einer Sekunde auf die andere ausgeschlossen wird. Irgendwoher wissen die Administratoren, dass er homosexuell ist, und das allein reicht für den sofortigen Rauswurf.

Seine christliche Unigruppe organisiert kurz darauf ein Seminar unter dem Titel: „Homosexualität – Barmherzigkeit und Wahrheit“. Der Hauptreferent ist jemand aus der Ex-Gay-Szene. Er nimmt Kontakt auf und bekommt von dem Experten sinngemäss die Auskunft, er müsse seine sündige Orientierung ändern und es sei seine eigene Schuld, dass er sich zu Männern hingezogen fühle. Er versucht, mit dem Leiter der Unigruppe ins Gespräch zu kommen, um eine weitere Belastung des Verhältnisses zwischen Christen und Homosexuellen abzuwenden, die dann droht, wenn diese Positionen öffentlich und als offizielle Doktrin verkündet würden. Der Leiter interessiert sich weder für Justins Sorgen noch für seine Lebensgeschichte und nicht für seine Argumente. Stattdessen hält er ihm eine Predigt über die Gräuel der Homosexualität, und Justin Lee weiss: Er ist vom „guten Jungen“ nun endgültig zum Häretiker geworden.

Torn (7) Die Bombe im Gepäck

Je länger, je mehr hat Justin Lee den Eindruck, dass seine evangelikalen Mitchristen Fehlinformationen über Homosexualität aufgesessen sind, und dass aufgrund der Fehlinformationen nun wohlmeinende Menschen dazu beitrugen, dass die Fronten, zwischen denen er und andere sich wiederfanden, zunehmend härter und undurchlässiger wurden.

Er beschreibt eine Szene aus einem Actionfilm: Die Protagonisten verfolgen einen Lieferwagen, in dem Terroristen angeblich eine Bombe versteckt haben, quer durch eine belebte Stadt. Als sie den Wagen endlich einholen und nachsehen, stellen sie fest, dass er leer ist. Die Bombe befand sich schon die ganze Zeit in ihrem eigenen Auto, und nun haben sie selbst den Sprengsatz ans Ziel gebracht. Ein Bild für konservative Christen und ihren verbissenen, oft unbarmherzigen Kulturkampf, der viele vor den Kopf stösst:

Der Sauerteig der Fehlinformation über Homosexuelle hat sich in der ganzen Kirche ausgebreitet, und er hat die Kirche nicht nur zum mutmasslichen Feind der Homosexuellen gemacht, sondern auch zu ihrem eigenen schlimmsten Feind.

Freilich betrifft das nicht alle Christen. Lee räumt ein, dass er den Begriff „Christen“ bis dahin für den Evangelikalismus als wichtigste Kraft im nordamerikanischen Protestantismus verwendet hat (was wiederum auch dem Sprachgebrauch vieler Evangelikaler entspricht). In theologisch liberalen Kreisen hat man als Homosexueller keine Probleme. Der Preis dieser Freiheit aber ist für ihn eine theologische Unverbindlichkeit und Schwammigkeit in ganz zentralen Glaubensfragen, etwa bei der Auferweckung Jesu von den Toten (theoretisch liegt zwischen diesen beiden Polen noch ein weites Feld, das kommt aber an dieser Stelle nicht in den Blick).

Er lernt parallel zu den christlichen Aktivitäten die Schwulen- und Lesbenszene kennen, die sich auch organisiert hat und sich zum Teil aggressiv gegen die „Christen“ positionierte. Dort wird er mit seinen eigenen Hemmungen und Verkrampfungen konfrontiert, der Fremdheit, die er aus seiner evangelikalen Kinderstube mitbringt. Zögernd begleitet er ein lesbisches Paar in eine Szenebar – es wird ein Kulturschock vor allem insofern, als er als braver Southern Baptist das Rauchen, den Alkohol und das Tanzen überhaupt nicht gewohnt und schon allein deshalb alles andere als entspannt war. Andererseits muss er sich dort keiner Avancen oder gar Übergriffe erwehren.

Die Spannung zwischen den beiden Welten, der verinnerlichte Kulturkampf, stürzt Justin Lee schliesslich in eine tiefe Krise. Die Lösung findet er nicht in Medikamenten, sondern in dem Entschluss, sich nicht mehr zu fürchten und sich nicht mehr durch die bestehenden Konfrontationen definieren zu lassen. Um die Frage nach seinem weiteren Weg im Leben zu klären, greift er erneut zur Bibel.

Torn (8): Zurück zur Bibel

Der Kulturkampf zweier Lager und Lebenskonzepte, die nach eigener Überzeugung die jeweils andere ausschliessen, stellt Justin Lee vor die Frage, auf welche Seite er sich schlägt. Die christliche Subkultur ist ihm bislang jede Antwort auf die Frage, wie er denn nun als (alleinstehender) mit seiner homosexuellen Orientierung leben solle, schuldig geblieben.

Bei seiner Suche in der Bibel beginnt er in Genesis 19, mit dem Untergang Sodoms. Und er stellt fest, dass Homosexualität dort keineswegs als das Hauptproblem oder die Kardinalsünde der Bewohner von Sodom erscheint. Dass diese geschlossen über Lots Gäste herfallen wollen, ist kaum sinnvoll als Folge gleichgeschlechtlichen Begehrens zu verstehen, sondern als ein Akt gewaltsamer Erniedrigung Fremder. Darauf deuten auch die auffälligen Parallelen zu Richter 19 hin. Über auf Liebe und gegenseitige Treue hin angelegte Beziehungen zwischen Partnern gleichen Geschlechts sagt die Geschichte nichts aus.

Ähnlich ist es in Levitikus 18,22. Lee erkennt schnell, dass die gern verwendete Unterscheidung zwischen Kultgesetzen und Moralgesetzen hier nur zu künstlichen und willkürlichen Resultaten führt, weil den Texten selbst ein solcher Unterschied völlig fremd ist. Selbst konservative Exegeten (er zitiert Robert Gagnon) sind der Auffassung, es gehe bei diesem Verbot um Tempelprostitution. Damit wäre es erstens nachvollziehbar, zweitens aber auf einen Kontext bezogen, der heute kaum anzutreffen ist.

Der grosse gedankliche Bogen, den Paulus in Römer 1,18-32 schlägt, wirft eine Menge Fragen auf. Zum Beispiel, ob Homosexualität als Strafe Gottes gegenüber Menschen anzusehen ist, die sich von ihm abkehren. Wie aber könnte diese Strafe jemanden treffen, der im Glauben gross geworden war und ihn nie hinter sich gelassen hatte? Von wem spricht Paulus also da in der dritten Person Plural? In den Kommentaren zu dem Abschnitt wird immer wieder auf heidnische Kulte Bezug genommen. Und „Götzendienst“ war der pauschale Grundvorwurf des religiösen Judentums gegenüber der heidnischen Umwelt. Paulus greift diese relativ grobe Polemik, der die meisten Juden ohne Zögern zustimmen würden, in Römer 1 auf, um ihr negatives Urteil über die heidnischen Zeitgenossen in 2,1 dann gegen sie selbst zu wenden – mit demselben Überraschungseffekt, den Nathan gegenüber König David schon erfolgreich eingesetzt hatte.

Beim Verständnis von 1.Kor 6,9-11 hängt dagegen alles an einem in seiner Bedeutung strittigen Wort, dem griechischen Begriff arsenokoitai, der ausser in 1.Tim 1,10 nirgends mehr auftaucht. Unter diesen Bedingungen ist seine Bedeutung schwer zu klären. Geht es wieder um Kultprostitution, geht es um die griechische „Knabenliebe“ (ein verheirateter, älterer Mann hält sich einen jugendlichen Liebhaber), oder werden tatsächlich auch Liebesbeziehungen auf Gegenseitigkeit und Augenhöhe, wie es sie heute gibt, damit abgelehnt? Vorschnelle Verallgemeinerungen sind problematisch. Es kommt ja auch niemand auf die Idee, das negative Urteil der Bibel über „Zöllner“ auf unsere heutigen Finanz- und Zollbeamten zu übertragen.

Hätte irgendeiner dieser Schriftstellen irgendetwas zu verantwortlichen und treuen homosexuellen Beziehungen gesagt, pro oder contra, oder über ernsthafte Christen, die sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlen, oder von der Notwendigkeit, dass Menschen wie ich allein bleiben, hätte ich das so hingenommen. Aber das taten sie nicht.

Andererseits war zumindest bei dem Begriff arsenokoitai nicht zweifelsfrei klar, dass er sich nicht auch auf homosexuelle Partnerschaften beziehen könnte. Eine Pattsituation: Man konnte es so herum betrachten oder andersherum. Lee fragt sich, ob er den Texten vielleicht voreingenommen begegnet sein könnte und stellt eine doppelte Tendenz bei sich fest: Den Wunsch nach einem Partner und zugleich die Angst, all das in Frage zu stellen, was ihm über die Bibel und Homosexualität beigebracht worden war. Kann man diesen inneren Knoten entwirren?

Torn (9): Ein neues Dilemma

Der erneute Durchgang durch die Bibel hatte für Justin Lee ergeben: Überall da, wo Homosexualität ausdrücklich erwähnt wurde, wurde sie negativ bewertet. Andererseits war nicht eindeutig klar, dass sich diese ablehnenden Aussagen auch auf verbindliche und liebevolle gleichgeschlechtliche Partnerschaften bezogen. Justin Lee entschloss sich, im fortbestehenden Zweifelsfall lieber weiterhin allein zu bleiben, und die Texte nicht weiter hin und her zu drehen.

Zu seiner Überraschung stellt er fest, dass er den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen hatte. Die entscheidende Frage war nicht die nach dem Inhalt der einzelnen Textstellen, sondern aus welchem Blickwinkel man sie betrachtet, die Frage nach (das sind jetzt meine Worte) der Mitte der Schrift. In früheren Streitfragen – ob die Bibel Sklaverei billigt oder Frauen von Gemeindeämtern ausschliesst und ob man das Recht oder gar die Pflicht zu zivilem Ungehorsam hat – haben sich Christen durchaus auch über den ausdrücklichen Wortlaut einzelner Schriftstellen hinweggesetzt.

Lee findet den Schlüssel zur biblischen Ethik in Römer 13,8-10, wo Paulus die Liebe als die Erfüllung des ganzen Gesetzes bezeichnet, die bedingungslose, selbstlose, verletzliche Liebe, die den anderen so achtet und ihm so zugewandt ist, dass sie ihm nichts Böses zufügt. Wer aufrichtig liebt, tut automatisch das Richtige. Lee verfolgt den Gedanken durch das Corpus Paulinum und findet ihn immer wieder in unterschiedlichen Facetten: Der Weg der Freiheit liegt zwischen den beiden Polen der Gesetzlichkeit und des Hedonismus oder der Willkür.

Dieselbe Logik liegt auch bei Jesus zugrunde, wenn er sich über das Sabbatgebot hinwegsetzt. Für seine Zeitgenossen war das keine Kleinigkeit, sondern der unmissverständliche Beweis, dass Jesus kein echter Prophet sein konnte, sondern nur ein raffinierter Verführer. Zum Streit in Markus 3,4 merkt Lee an:

Aus der regelkonformen Perspektive ergibt das Argument Jesu keinen Sinn. Aber aus einer liebe-deinen-Nächsten-Perspektive ist der Sinn sonnenklar.

Jesus streitet also mit den Pharisäern gar nicht darum, ob das Verbot, am Sabbat bestimmte Dinge zu tun, in seinem Fall (Heilung, Ährenausraufen) zutrifft, er bestreitet also gar nicht, dass er das Sabbatgebot „bricht“. Stattdessen erklärt er, dass das Gebot „für den Menschen“ da ist, oder, um es mit Paulus zu sagen, um uns zu Christus zu führen, um dort dem Geist des Gesetzes zu begegnen, statt beim Buchstaben stehenzubleiben.

Und so wie ein Arzt dem Patienten manchmal in einem konkreten Fall rät, den Beipackzettel mit seinen Warnungen und Dosierungsanleitungen zu ignorieren und das verschriebene Medikament anders einzunehmen, so kann der Geist Gottes Menschen in bestimmten Situationen dazu anleiten, den Buchstaben des Gesetzes zu missachten. Ob es tatsächlich Gottes Geist war, der diesen Weg gewiesen hatte, muss sich dann an der Frucht dieses Handelns erweisen.

Zweifellos gab es viele Arten homosexuellen Verhaltens, die von Selbstsucht angetrieben wurden und nicht von Agape-Liebe. Vergehen wie Vergewaltigung, Götzenkult, Prostitution, und der Missbrauch von Kindern sind klare Beispiele für die Resultate selbstsüchtiger, fleischlicher Motivation, die keine Liebe zu Gott und anderen ist.

… Aber angenommen, zwei Menschen lieben sich von ganzem Herzen, und sie wollen einander im Angesicht Gottes versprechen, sich zu lieben, zu ehren, wertzuschätzen; einander selbstlos zu dienen und zu ermutigen; gemeinsam Gott zu dienen; einander treu zu bleiben für den Rest ihres Lebens. Wären sie unterschiedlichen Geschlechts, würden wir das heilig nennen und schön und einen Grund zum Feiern. Aber wenn wir nur eine Sache ändern – das Geschlecht eines der beiden – während immer noch die gleiche Liebe, Selbstlosigkeit und Hingabe da wären, würden viele Christen es plötzlich als Gräuel bezeichnen, dem die Hölle droht.

Als ich Römer 13,8-10 wieder und wieder las, fand ich keinen anderen Weg, diese Sicht der Dinge mit dem in Einklang zu bringen, was Paulus uns über Sünde sagt. Wenn alle Gebote in der Regel zusammengefasst sind, dass wir einander lieben sollen, dann waren homosexuelle Paare entweder die einzige Ausnahme von dieser Regel, und Paulus hatte Unrecht – oder meine Kirche hatte einen schlimmen Fehler gemacht.

Mit Furcht und Zittern betritt Justin Lee Neuland, für das er noch keine Karten hat. Wenn er mit seiner Einschätzung falsch liegt, macht er sich schuldig und verleitet andere zur Sünde. Ein erschreckender Gedanke! Aber was, wenn er umgekehrt Recht und die kirchliche Tradition sich geirrt hatte? Was, wenn sie zahllose Menschen unnötigerweise vor den Kopf gestoßen und ihnen den Weg zum Glauben verbaut hatte? War es dann in Ordnung, einfach den Mund zu halten?

Torn (10): Wer A sagt, muss nicht B sagen

Justin Lee entschliesst sich, Brücken zwischen seiner christlichen Studentengruppe und der homosexuellen Hochschulgruppe zu bauen. Beide Lager stehen einander recht ablehnend gegenüber. Auf einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung beider Gruppen erzählt er seine Geschichte und ist erstaunt, wie sehr das viele Zuhörer bewegt. Zum ersten Mal bekommt er Kontakt zu Menschen, denen es ganz ähnlich geht, an der Schnittstelle beider „Welten“.

Nach seinem Studienabschluss startet Lee eine Internet-Community, das „Gay Christian Network“. Binnen kurzer Zeit sind über 1.000 Leute angemeldet, die sich dort austauschen und einander tragen und begleiten. Die einen lebten zölibatär, die andere in festen Partnerschaften, die einen suchten Freundschaft, andere Liebe, wieder andere suchten Gott. Der gemeinsame Nenner ist die Leidenschaft für Gott und die Überzeugung, dass Christen besser auf Homosexuelle zu- und eingehen sollten. In allen anderen Fragen gibt es ganz unterschiedliche Standpunkte. 2005 findet die erste Konferenz des GCN statt.

Von Anfang an hatte sich Justin Lee an einer Initiative namens „Bridges Across“ orientiert. Deren Gründer waren im Blick auf homosexuelle Partnerschaften geteilter Meinung, aber sie arbeiteten daran, das Verständnis für den anderen zu fördern. Und dabei erschien es nicht hilfreich, die Standpunkte in „pro und contra Homosexuelle“ einzuteilen, ebenso wenig in „konservativ und liberal“. Schliesslich sprachen sie von Side A und Side B. Seite A glaubt, homosexuelle Beziehungen sind ebenso gut und wertvoll wie heterosexuelle. Seite B glaubt, die Ehe von Mann und Frau ist Gottes Norm. Lee greift diesen Gedanken auf, er will vorleben, dass Christen auch mit solch unterschiedlichen Meinungen einander tief verbunden bleiben können.

Inzwischen ist das Netzwerk weitergewachsen. Lee macht sich keine Illusionen, dass die Meinungsunterschiede demnächst passé sein könnten. Umso wichtiger ist es ihm, dass beide Seiten weiter aufeinander zugehen, den anderen anhören und respektieren lernen und damit Zeichen setzen in einer Welt, die sich über solchen Fragen in der Regel zerstreitet.

Torn (11): Und jetzt?

Justin Lee schliesst seine Geschichte mit Gedanken dazu, wie sich das Verhältnis zwischen Homosexuellen und Christen konstruktiv weiterentwickeln lässt. Christen müssen erstens Andersdenkenden weitherziger begegnen. Homosexuelle erleben die meisten Christen immer noch als Menschen, die sie ablehnen oder meiden und alle möglichen Vorurteile pflegen.

Zweitens geht es darum, Christen konstruktiv anzuleiten im Umgang mit Homosexuellen. Dabei ist kaum etwas so wichtig wie das Erzählen der eigenen Geschichte. Wenn sich ein Mensch öffnet und ein anderer ihm zuhört, dann können Ängste und Hemmungen überwunden werden.

Drittens gilt es, den Ansatz der „Ex-Gay“-Bewegung aufzugeben. Hier wird Lee immer wieder gefragt, ob eine solche Arbeit nicht wenigstens einer kleinen Minderheit wirklich nützt und daher unterstützt werden sollte. Manche Christen scheuen davor zurück, von Homosexuellen Enthaltsamkeit zu verlangen, ihre theologische Position lässt aber keinen anderen Spielraum zu, daher erscheint die Aussicht auf eine eventuell erfolgreiche Therapie attraktiv. Auf der Negativseite steht jedoch zu Buche, dass der Ansatz bei den meisten scheitert und auf dem Weg dahin viel Schaden entstehen kann – für die Betroffenen selbst, für ihren Glauben und für die Menschen um sie her. Der Glaube an die Therapierbarkeit hat zudem (auch wenn die unterschiedlichen Ex-Gay-Gruppen ihre Erfolge inzwischen bescheidener darstellen) oft dazu geführt, dass jemand, der nicht an diesen Treffen teilnehmen wollte, sich den Vorwurf gefallen lassen musste, er drücke sich ja nur um den anstrengenden Prozess der Veränderung.

Viertens muss es für Homosexuelle auch in Ordnung sein, zölibatär zu leben und dabei zu seiner Homosexualität zu stehen. Diese Gruppe darf nicht zwischen den anderen Positionen zerrieben werden: Heterosexuelle und Ex-Gays neigen dazu, diesen Weg ebenso mit Argwohn zu betrachten wie Homosexuelle, die sich für eine Partnerschaft entscheiden. Und dann müssten Gemeinden auch aktiv Wege suchen, diese Menschen zu unterstützen (vor allem dann, wenn ihre Theologie keinen Raum bietet für Partnerschaften zwischen Mann und Mann oder Frau und Frau). Zusätzlich wird das noch dadurch erschwert, dass Christen das Alleinleben an sich tendenziell schon als defizitären Zustand begreifen; darunter leiden dann auch viele heterosexuelle Singles, aber die müssen sich wenigstens keine harten Worte wegen ihrer Orientierung anhören.

Fünftens muss der Mythos überwunden werden, die Bibel sei gegen Homosexuelle. In der konservativen kirchlichen Tradition hat sich aufgrund dieser Ansicht die Neigung zu scharfen Abgrenzungen durchgesetzt, während „liberalere“ Zeitgenossen wohlmeinend einwenden, man dürfe die Bibel eben nicht allzu wörtlich nehmen. Da hören die anderen statt „nicht wörtlich“ „nicht ernst nehmen“ heraus und es entsteht wieder der Eindruck, dass „Bibeltreue“ immer irgendwie Schwulen- und Lesbenfeindlichkeit nach sich zieht. Aber Justin Lee hatte ja schon gezeigt, dass man die Bibel durchaus ernst nehmen und trotzdem Raum für gleichgeschlechtliche Partnerschaften sehen kann.

Es folgen noch zwei weitere Vorschläge, für die brauche ich etwas mehr Platz und Zeit, es wird zu Torn also noch einen letzten Post geben.

Torn (12): Die Spannung offen aushalten

Im Schlusskapitel von Torn bringt Justin Lee nach den schon beschriebenen Ratschlägen noch einen weiteren wichtigen Gedanken ins Spiel. Christen, die zu ihrer Homosexualität stehen, sagt er, sollten ihren Platz in der Kirche finden. Er selbst habe sich immer gefragt, ob Gott etwas mit ihm anfangen könne, obwohl er doch homosexuell sei. Nun sieht er, dass er nicht trotz, sondern wegen seiner Orientierung etwas Besonderes zu geben hat.

Christen wie er können dazu beitragen, die schon ausführlich thematisierte Kluft zwischen den beiden „Lagern“ zu überwinden. Viele haben tiefe Krisen und Zweifel durchlebt, und haben dabei zu inneren Klärungen und einem tieferen Gottvertrauen gefunden. Und weil viele von ihnen auch unter den Zuständen in den Kirchen gelitten haben, können sie einen authentischen Beitrag zur Versöhnung leisten.

Dazu müssen sie sich aber auf allen Ebenen des Gemeindelebens einbringen dürfen, was zu erheblichen Spannungen führen kann, wenn etwa ein homosexuelles Paar auf eine Gemeinde trifft, die davon überzeugt ist, dass die beiden zölibatär leben sollten. Oft wird in diesem Zusammenhang dann auf 1.Korinther 5 Bezug genommen, wo Paulus darauf beharrt, dass Christen sich in einem Umfeld, dass sie misstrauisch beäugte, moralisch tadellos verhalten sollten. Heute ist in westlichen Ländern die Situation freilich umgekehrt: Kaum jemand lauert auf eine Chance, Christen als moralisch verwerflich zu diskreditieren, vielmehr werden konservative Christen als strenge Moralapostel gemieden. Der gesellschaftliche Konsens, dass Homosexualität prinzipiell „falsch“ sei, bricht momentan überall zusammen, allmählich auch unter Evangelikalen.

Statt in 1.Korinther 5 liefert uns Paulus den Schlüssel zum richtigen Umgang mit unterschiedlichen moralischen Urteilen in Römer 14, wo Paulus dazu aufruft, dass die verschiedenen Seiten einander erlauben, ihrem Gewissen zu folgen. Selbst unter homosexuellen Christen gibt es unterschiedliche Positionen, die im Gay Christian Network miteinander ins Gespräch gebracht werden. Es gibt durchaus gleichgeschlechtliche Paare, die sich aus bewusst einer Gemeinde angeschlossen haben, die ihre Beziehung offiziell nicht unterstützt, weil sie sich dorthin von Gott gerufen sehen.

Damit das gelingt, muss man sich im Dialog üben: Eltern müssen lernen, ihren homosexuellen Kindern zuzuhören, statt voreilige Schlüsse zu ziehen. Schwule und lesbische ChristInnen sollten mit ihren Verwandten und Freunden Geduld haben, unüberlegte Äusserungen nicht auf die Goldwaage legen, und ehrlich von den eigenen inneren Kämpfen reden. In Gemeinden und zwischen Gemeinden gilt es, offen und ohne Druck ins Gespräch zu kommen über die unterschiedlichen Standpunkte.

Das ist Christen ja generell aufgetragen: den Anderen ernsthaft verstehen zu wollen, auch wenn man selbst noch nicht verstanden wird – etwa, indem wir Vorurteile aussetzen und die Sprache des anderen lernen. Das bedeutet sich den Verzicht auf die eigene Meinung, aber die Bereitschaft, sie als etwas Vorläufiges zu betrachten. Schliesslich haben wir täglich mit Menschen zu tun, die in vielen Fragen ganz anderer Auffassung sind als wir selbst. Wenn wir einander im Licht der Gnade sehen, dann treten diese Unterschiede zurück und die Gemeinsamkeiten rücken in den Vordergrund.

Ich hoffe, der Kurzdurchgang hat gezeigt, dass sich die Lektüre von Torn lohnt. Momentan ist leider kaum zu erwarten, dass sich ein evangelikaler Verlag an eine Übersetzung wagt. Das allein zeigt natürlich auch, wie tief die Gräben derzeit noch sind. Aber es muss ja nicht ewig dabei bleiben.


Peter schrieb diesen Text 2013 in seinem Blog «peregrinatio, auf zu neuen Ufern«. Übernahme mit freundlicher Genehmigung von Peter Aschoff. Der Originaltext findet sich unter «Torn».