…aus dem Gottesdienst «Männliche und weibliche Gottesbilder»
Elisabethenkirche Basel, Oktober 2000
Der Ausgangspunkt für das Thema unseres Gottesdienstes über männliche und weibliche Gottesvorstellungen war der Hinweis darauf, wie sehr unsere Sprache über das Göttliche männlich dominiert ist: Er, der Herr, Vater unser, der Herrgott – das sind Begriffe, welche unser Reden von Gott beHERRschen. Sie, unsere himmlische Mutter, die Eine, die Urkraft, die Quelle, diese Umschreibungen kommen nur sehr selten vor.
Im Buch Genesis heisst es:
«Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde,
nach dem Bilde Gottes schuf er ihn,
als Mann und Frau schuf er sie.»
Fragen stellen sich uns:
- Wie sprechen wir von Gott, welche Festlegungen schaffen wir mit diesen Ausdrucksformen, was lösen sie in uns aus?
- Vernachlässigen wir eine Seite Gottes, weil wir der weiblichen Seite in uns und bei unseren Mitmenschen zu wenig Raum lassen, weil eine Gesellschaft, die auf Prinzipien wie Wettbewerb, Konkurrenzdenken und Funktionieren aufgebaut ist, so vielen wertvollen Anteilen in uns wenig Raum lässt?
- Anerkennen wir uns in unserem Lebensalltag als ganzheitliche Persönlichkeiten, mit einer männlichen und einer weiblichen Seite in uns, und respektieren wir gegenseitig unsere individuellen Ausprägungen?
- Welche Eigenschaften oder welche Verhaltensweisen, welche psychischen Merkmale definieren wir eher als dem Weiblichen zugehörig und welche als männlich?
- Wie weit ist es gediehen mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau, die seit längerer Zeit Teil der politischen und gesellschaftlichen Diskussion ist?
- Wie viel mehr müssen Frauen leisten, um in traditionell männlich dominierten Berufszweigen anerkannt zu werden? Machen Frauen in manchen Bereichen dann Karriere, wenn sie sich mit den Eigenschaften und Verhaltensweisen des traditionellen männlichen Rollenbildes bewegen?
- Wie weit können wir uns einbringen mit unserer unverwechselbaren Persönlichkeit in die Gesellschaft, an unserem Arbeitsplatz, in unserer Kirche, als Mann und als Frau, als Lesbe und als Schwuler?
In meiner Biographie war Jesus von Nazareth ein bestimmender Impuls. Jesus war ein anderer Mann: klar, entschieden, gottverbunden, sanft und barmherzig, ein Heiler, der feinstoffliche Energien kennt und wahrnimmt, eine Zuflucht, ein Gefäss, einer, der nicht meinte, über andere herrschen zu müssen.
Auf meinem Lebensweg haben mir verschiedene Frauen wesentliche Impulse gegeben. Es war beglückend für mich, diese wahrzunehmen in ihrer Anbindung an die Quelle, an etwas, was mir erschien wie ein Teil der weiblichen Seite Gottes.
Wir alle sind Geschöpfe der göttlichen Urkraft und Teil der heiligen Seele. In Christus wissen wir uns angenommen, so wie wir sind. Spirituelle Erfahrung, Gotteserfahrung führt uns in eine Welt jenseits der Dualitäten, der Polaritäten. Gott ist mehr als seine/ihre männliche oder weibliche Seite, aber möglicherweise finden wir über die Bilder von diesen Anteilen zu Gott, vielleicht nähert Gott sich uns über diese Bilder von der ewigen Mutter, vom himmlischen Vater.
Wie wir das Weibliche und das Männliche bewerten, hat entscheidend mit unseren persönlichen Lebenserfahrungen zu tun:
- Welche Beziehung haben oder hatten wir zu unserer Mutter, die uns zur Welt gebracht hat, und wie prägten Frauen unseren weiteren Lebensweg?
- Wie nahe und vertraut war oder ist uns unser Vater, und wie erlebten wir spätere Verbindungen zu männlichen Bezugspersonen?
- Wie hat sich unsere geschlechtliche Identität entwickelt, als lesbische Frau, homosexueller Mann, als Bisexuelle oder Heterosexuelle?
- Wer hat uns in welcher Weise von Gott erzählt, von Jesus, dem Christus, und was haben wir über Maria erfahren?
Vielleicht spalten wir Teile von uns ab, weil wir damit schlechte Erfahrungen gemacht haben und uns Erinnerungen daran schmerzen.
Je mehr wir die verschiedenen Anteile unserer Persönlichkeit integrieren und annehmen können, desto besser geht es uns.
Je mehr ich erkenne, dass das, was mich an anderen stört, auch Teil ist einer Wirklichkeit, die in mir lebt, desto mehr bin ich bei mir, und eine Projektion meiner Probleme auf andere wird überflüssig.
«Liebe deinen Nächsten wie dich selbst», heißt es im Evangelium, und manche übersetzen das auch in: «Liebe deinen Nächsten ALS dein Selbst.»
Unterdrückung hat mit Unterscheidung zu tun, mit Ausgrenzung. Unterscheidungen trifft nicht Gott, Unterscheidungen treffen wir Menschen. Die Überwindung der Abspaltungen, der Ausgrenzung ist ein Prozess. Hierzu benötigen wir Zeit und einen Weg voller Erfahrungen.
In Christus sind wir aber auch Befreite und Gesegnete. «Freiheit», schreibt der Mystiker Krishnamurti, «Freiheit steht am Anfang und nicht am Ende». Und Mahatma Gandhi sagte: «Der einzige Weg zum Frieden ist der Frieden».
Ich wünsche uns, dass wir immer mehr hinfinden zu positiven menschlichen Werten wie Solidarität, Zuwendung, Sensibilität, Vertrauen, Vorurteilslosigkeit und Offenheit, dass wir hinfinden zu der Fähigkeit, unsere Gefühle und unsere Betroffenheit zu zeigen, in unserem konkreten Handeln und in unserer Alltagspraxis.
Ich wünsche uns, dass wir bei dieser Vision bleiben, dieses Bild halten, auch wenn wir in unserem Leben immer wieder leidvolle Erfahrungen machen müssen.
Was wir lange vernachlässigt haben, was zu kurz gekommen ist, dem gehört ein besonderer Raum, vielleicht ein Altar: Ich wünsche uns das Bewusstsein für unsere himmlische Mutter, die heilige Seele, unsere Quelle!
Rainer