Wie neugeboren

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Pfarrerin Susanne Englert, Reutlingen/D

Predigt an Quasimodogeniti, 18. April 2004, Leonhardskirche, Reutlingen

Geboren zur Hoffnung – Gott als Gebärerin

1. Petrus 1, 3 – 9

Liebe Gemeinde,

wann haben Sie zum letzten Mal gesagt: „Ich fühle mich wie neugeboren!“ Erinnern Sie sich? Vielleicht auch nur daran, dass Sie dies es Gefühl wenigstens einmal hatten. Es war bei einer Wanderung in den Bergen. Schon mehrere Tagesetappen mit schweren Rucksäcken und schmerzenden Füssen lagen hinter uns. Heiss war es gewesen. Und dann dies er wunderschöne spiegelglatte Bergsee im Abendlicht! Wir tauchten ein in seine eiskalten Fluten – lange hielt man es nicht aus. Aber dies es Gefühl! „Ich fühle mich wie neugeboren! “ Für einen herrlichen Augenblick lang war die Welt vollkommen, wir waren eins mit uns selbst und der kaum berührten Natur und einfach nur selig.

So muss das sein: wie neu geboren. Dabei wissen wir es eigentlich gar nicht so genau. Tatsächlich erinnert sich wohl niemand von uns bewusst daran wie das war bei der eigenen Geburt. Im Grunde genommen ist es ein einziges grosses Geheimnis. Den Mutterschoss, die bergende Höhle, die Verbundenheit, aber auch den eng gewordenen Raum verlassen, sich mühsam hinauswinden ins eigene Leben, der erste Atemzug, der Schrei nach Nähe und Nahrung: letztlich können wir nur ahnen, welch umwerfende Erfahrung das ist. Zwar haben wir alle ausnahmslos die Erfahrung gemacht, geboren zu sein. Aber wir erinnern uns nicht, jedenfalls nicht bewusst. Ob es die reine Glückseligkeit ist, darf jedoch bezweifelt werden. Geburt, geboren werden ist immer auch Krise, eine Grenzerfahrung – nicht nur für die Mutter, sondern auch für das zur Welt kommende Neugeborene.

Nun haben wir vor einer Woche Ostern gefeiert. Vielleicht haben Sie ihn noch im Ohr, den hellen, jauchzenden Osterjubel, die fröhlichen Auferstehungslieder. Auch heute haben wir ja schon welche gesungen. Und vielleicht singen wir zu wenig und zu selten, diese jubelnden Lieder. Aber vielleicht gehören Sie auch zu denen, die sich schwertun mit dieser jahreszeitlich verordneten Frühlingsfröhlichkeit. Weil für Sie persönlich gerade etwas ganz anderes dran ist. Oder aber auch, weil Sie einfach nicht zu den Überschwänglichen gehören oder weil Sie grundsätzlich skeptisch sind.

Ungeteilten Osterjubel – gibt es das überhaupt? Die Sehnsucht ist da, und manchmal gibt es diese unglaublichen Momente der Glückseligkeit. Aber sie sind nicht die Regel. Wir können das beklagen. Und in manchen Situationen kann einem wirklich das Jubeln vergehen. Wie neugeboren? Von wegen! Die Gemeinden von damals, an die der erste Petrusbrief verschickt wurde, waren wohl in einer ähnlich ernüchternden, ja sogar bedrängten Situation. Verstreut, als Fremdlinge lebten sie am Rande einer Gesellschaft, die das unangepasste Verhalten der Christinnen und Christen in Kleinasien misstrauisch beäugte. Die Mehrheit war voller Feindseligkeit und empfand das alternative christliche Lebensmodell als Bedrohung. Es gab Anschuldigungen, Verleumdungen und Einschüchterungsversuche gegen die Gläubigen. Das Hochgefühl der Anfänge in den Gemeinden war verflogen. Stattdessen hatte sich die blanke Angst vor Unterdrückung und gewaltsamen Übergriffen breit gemacht.

Einfühlsam geht der Autor mit dieser tiefen Verunsicherung um. Er tut das, was die Aufgabe eines guten Seelsorgers ist: Er macht das Angebot eines anderen Blicks auf das Leben und die Welt. Diese andere Perspektive kommt von der Ewigkeit her. Sie erzählt vom Ursprung und Ziel des Glaubens. Woher wir kommen und wohin wir gehen, das ist das Thema. Damit ist der grosse Bogen gespannt. Er beginnt beim Lob Gottes und bei der Beschreibung dessen, was Gott tut und bereits getan hat.

„Wendet euren Blick zu Gott! Er hat uns neugeboren, wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnung!“ Da ist sie, dies e Vorstellung von Gott als Gebärerin – durchaus ein ungewohntes Bild. Aus ihrem Schoss kommen wir als Neugeborene, zunächst als unbeholfene und hilfsbedürftige Wesen, noch jung im Glauben sozusagen. Und jetzt hilft mir diese Vorstellung, den Glauben eben gerade nicht als die einmalige Kehrtwende im Leben zu sehen, und dann ist alles ganz einfach. Vielmehr ist er ein Prozess, mitunter krisenhaft und schmerzlich, eine Grenzerfahrung, bei der ich nicht von vorneherein weiss, wie sie ausgeht.

Und Neugeborene sind angewiesen auf Nahrung und Wärme, auf die Muttermilch, die alles Verlangen stillt. Glaube bedeutet darum auch, dies es immer wiederkehrende Verlangen zu pflegen, das Verlangen nach dem Geschmack des Himmels und der Ewigkeit. Auch davon redet der Petrusbrief an anderer Stelle. „Seid begierig nach der vernünftigen lauteren Milch wie die neugeborenen Kindlein, damit ihr durch sie zunehmt in eurem Heil, da ihr ja geschmeckt habt, dass der Herr freundlich ist.“

Da ist etwas, was noch aus steht! Als die Neugeborenen sind wir am Anfang unseres Wegs. Wie Neugeborene auf die Milch ihrer Mutter angewiesen sind, brauchen wir, dass uns er Verlangen nach der göttlichen Heilsmilch immer wieder gestillt wird. Damit uns er Glaube wachsen und gedeihen kann. Damit die Hoffnung lebendig bleibt und unsere Seele nicht verhungert. Denn es ist ein langer Weg, mitunter steinig, manchmal voller Ängste. Grenzerfahrung Geburt heisst eben auch, die Grenze zu erleben, ihr aus gesetzt zu sein. Manchmal breche ich ein und verliere den Boden unter den Füssen. Manchmal bin ich so erschüttert, dass ich den Bezug zu mir selbst und Gott verliere. Dann bin ich darauf angewiesen, dass andere mich tragen und für mich beten und hoffen.

Wenn so Unfassbares geschieht wie dies er Tage der Unfalltod zweier junger Frauen, gerade 20 Jahre alt, dann ist das so ein Einbruch, der mir und sicher auch vielen von Ihnen an die Nieren geht. Die eine der beiden hat zu uns gehört, zu unserer Gemeinde. Die Familie ist hier zu Hause, sie ist mit uns verbunden. Da kann es nicht darum gehen, irgendeinen Sinn in diesem Tod mitten aus dem Leben herauszufinden. Das ist einfach nur sinnlos und unerträglich.

Ich fahre täglich auf meinem Weg hierher an dieser Kreuzung vorbei. Täglich die Erinnerung an diesen jähen Einbruch des Todes ins blühende Leben. Täglich die Gedanken an die Familie, die damit irgendwie leben muss. Und diese meine Betroffenheit ist nichts gegen die Qualen der Angehörigen. Aber sie fordert mich heraus, meinen Blick neu auszurichten – auf Gott hin, im Sinne unseres Petrusbriefs auf die von der Ewigkeit her nährende Mutter Gott. Ich kann nicht anders, als in diesem Schmerz mich neu in der lebendigen Hoffnung zu verankern, die im Glauben an die Auferstehung begründet ist.

Vor kurzem erlebte ich in einem Vortrag eine Schweizer Theologin. Sie hat auch ein Kind verloren, als es ein paar Jahre alt war. Und was sehr schön ist und mich unglaublich berührt hat, ist die Art und Weise, wie diese Verlusterfahrung ihr theologisches Arbeiten inspiriert hat. Sie hat auch Gedichte geschrieben. Fast alle erzählen von der Hoffnung angesichts des Lebens mit dem Tod. Eins davon lautet so:

Die Hoffnung bleibt wach
eines Tages oder Nachts wird Gott zuhören
mich und dich ansehen
und verstehen.
Wir werden weinen
und aller Schmerz
und alle Schuld wird sich in diesen Tränen
lösen
wird der unendlichen Erleichterung
weichen
ganz Wasser zu werden, zu fliessen,
zu heilen.“

Luzia Sutter Rehmann

Die Gedichte dies er Frau besingen die „Kraft, die aus den Häusern, aus den zu engen Schuhen und aus den Gräbern treibt“. Die Auferstehungshoffnung nähren heisst „sich aus strecken nach allem, was noch aussteht“. Ja, wir sind unterwegs auf ein Ziel hin, das noch aussteht. Die Muttermilch Gottes flösst uns immer wieder den Geschmack davon ein – aber die vollkommene Glückseligkeit, die steht noch aus. „Und ist noch nicht erschienen, was wir sein werden“, heisst es in einem anderen Brief des Neuen Testaments.

Man kann dem entgegenhalten, das sei eine billige Vertröstung aufs Jenseits. Das ist ein uralter Vorwurf. Zuweilen war er durchaus berechtigt. Nämlich dann, wenn das Jenseits beziehungsweise die vermeintliche göttliche Ordnung von den Mächtigen als Argument benutzt wurde, um Widerstand, Aufstand gegen Unterdrückung und Unrecht zu brechen. Aber für den Umgang mit Grenzerfahrungen zwischen Leben und Tod, für die Auseinandersetzung mit dem verletzlichen, brüchigen, endlichen Leben, auch für den Umgang mit Schuld und Versagen, mit erlittener Ohnmacht, da taugt diese Unterstellung nicht.

Es ist keine billige Vertröstung, wenn wir die lebendige Hoffnung auf Verwandlung nähren. Wer sich nach dem noch Ausstehenden ausstreckt, erwartet das Leben – hier und jetzt. Weil Hoffnung Flügel wachsen lässt. Weil Hoffnung Schleusen öffnet, die neuen Zugang zu bisher verschütteten Kraftquellen ermöglichen. Weil Hoffnung Ungeahntes, vorher nicht dagewesenes gebiert. Weil Hoffnung die Weite der Ewigkeit in unser Leben hereinzieht. Weil Hoffnung den Boden bereitet, damit Liebe wachsen kann.

Diese Art von Hoffnung schliesst die Grenzerfahrung Tod mit ein. Nicht erst als die Grenze, die irgendwann – früher oder später – uns alle trifft, sondern auch als eine Quelle der Lebendigkeit, als ein Berührt sein vom allumfassenden Sein in Gott. Unsere Verstorbenen sind in Kontakt mit uns. Darüber lächeln manche, weil sie das nur so verstehen können, als ob die Toten direkt mit uns sprächen. Aber das, was von den Toten in unser Leben hereinstrahlt, kann auch etwas sehr Lebendiges, Lebens förderndes, Tröstliches, unglaublich Ermutigendes sein. So wie es noch einmal ein Gedicht von Luzia Sutter Rehmann aus drückt:

Im Totenreich
Im Totenreich
gibt es keine Grenzen und alle
sind gleich nur die Kinder
sind glücklicher
und den Sternen fern.

Natürlich tanzen sie kühn
proben den Aufstand
in die Verwandlung hinein
rufen gelegentlich und
ziehen unsere Sehnsucht mit.

Das Weben der Toten
ist leise – sie umspülen meine Füsse
mit Fäden voller Licht.
Sie lehren mich tanzen und
zwinkern aus Zweigen herab,
Sternbildern gleichen ihre Hoffnungen.“

Liebe Gemeinde, so kann es heute klingen, das Lied vom Neugeborensein zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten. Möge die Hoffnung in uns weitersingen!

Amen.

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