Ist Homosexualität Sünde?

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Nein, Homosexualität, auch gelebte Homosexualität, ist keine Sünde.

Zunächst muss der Begriff geklärt werden. In der Theologie unterscheidet man zwischen Sünden im Plural – die vielen kleinen Übertretungen der Gebote – und der Sünde im Singular. Sie wird als Zustand der Gottesferne definiert: Sünde als Entfremdung von Gott. Sünde als Verweigerung der Liebe. (Handbuch der christlichen Ethik III, S. 139, Herder 1993) Da in unserem Zusammenhang von der Sünde im Singular die Rede ist, lautet die Frage: Befindet sich ein homosexuell lebender Mensch im Zustand der Gottesferne?

Wodurch entsteht Gottesferne? Wenn man das Neue Testament von seinem Kern, von Jesus Christus her liest, wird schnell klar, dass nur fehlende Liebe zum Zustand der Gottesferne führt. Da ist Jesu Doppelgebot der Liebe anzuführen: „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Lk 10, 27+28). Auch Paulus schreibt: „Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!’“ (Gal 5,14). Von dieser Liebe kann nichts uns scheiden, denn sie ist in Gott gegründet (Römer 8, 38+39). Sie hat zudem ganz praktische Konsequenzen, wie sie in der „Goldenen Regel“ formuliert sind: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten.“ (Mt 7,12)

Von Jesus Christus her ist der Befund eindeutig: Wer seine Beziehung gleich ob homo- oder heterosexuell – auf der Liebe aufbaut, befindet sich in Gottes Nähe. Wer seine Beziehung lieblos, womöglich gewalttätig lebt – gleich ob homo- oder heterosexuell -, der befindet sich im Zustand der Gottesferne, also der Sünde.

Nun quälen sich aber viele Christinnen und Christen mit dem Gedanken: ‚Die Bibel bezieht doch aber ausdrücklich gegen Homosexualität Stellung. Das kann man doch nicht übergehen!’ – Nein, übergehen nicht, aber richtig verstehen. Es wird z.B. auf 1. Mose 1, 27 verwiesen: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.“ Hieraus hat man eine „Schöpfungsordnung“ abgeleitet, die für alle Zeiten bindend sein soll. Die Theologie der letzten 200 Jahre hat aber erkannt, dass es sich bei den Schöpfungsberichten in der Bibel um Zeugnisse ihrer Zeit handelt, in denen das Weltbild und die Moral ihrer Zeit ihren Niederschlag gefunden hat. Eine Übertragung 1:1 auf unsere Zeit ist deshalb gar nicht möglich. Ein Beispiel: Ende des 19. Jahrhunderts gab es fromme Christen, die gegen die elektrische Strassenbeleuchtung zu Felde zogen, weil sie sagten: ‚Gott hat Tag und Nacht geschaffen, da darf der Mensch die Nacht nicht zum Tage machen; das verstösst gegen die Schöpfungsordnung.’ Diese Auslegung geht mit der Bibel nicht anders um als die Aussagen über das angeblich normative Verhältnis von Mann und Frau. Wenn über den Protest gegen die Strassenbeleuchtung längst Gras gewachsen ist, so hat das nichts mit Methoden der Bibelauslegung, sondern mit veränderter kultureller Wahrnehmung der Bibel zu tun. Es gibt keine „absolute“ Bibelauslegung, die unabhängig wäre vom kulturellen Standpunkt des Betrachters.

Zu den Todesdrohungen im 3. Buch Mose (18, 22 und 20,13) ist zu sagen, dass sie Bestandteil des jüdischen Gesetzeskataloges sind, der für uns Christen eben im Gesetz der Liebe erfüllt ist (siehe oben). Wer sich auf diese Stellen beruft, müsste auch die Gesetze zum koscheren Essen beachten, dürften keine Kleidung aus zweierlei Faden tragen usw.

Am schwersten tun sich manche Christinnen und Christen vielleicht mit den einschlägigen Stellen bei Paulus: „Darum hat Gott sie hingegeben in schändliche Leidenschaften; denn ihre Frauen haben den natürlichen Verkehr vertauscht mit dem Widernatürlichen; desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen und sind in Begierde zueinander entbrannt und haben Mann mit Mann Schande getrieben und den Lohn der Verirrung, wie es ja sein musste, an sich selbst empfangen.“ (Röm 1,26+27) „Oder wisst ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden? Lasst euch nicht irreführen! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, Ehebrecher, Lustknaben, Knabenschänder … werden das Reich Gottes erben.“ (1. Kor 6,9+10) Paulus geht von Voraussetzungen im Verhältnis der Geschlechter zueinander aus, deren Kenntnis seine Aussagen in anderem Lichte erscheinen lässt. So schreibt er: „Jeder Mann soll sein eigenes Gefäss (skeuos) haben.“ (1. Thess 4,4) Die gängigen Übersetzungen geben „skeuos“ verschämt mit „Frau“ wieder und verdecken damit, wie zeitbedingt und wie wenig nachvollziehbar seine Haltung heute ist, Frauen als „Gefäss“ zu bezeichnen. Genau hierin aber lag für Paulus und die Männer seiner Zeit die „Schande“: wenn ein Mann sich zum „Gefäss“ machte.

Wenn wir von zeitbedingt sprechen und daraus Schlüsse für die Bibelauslegung ziehen, haben wir unausgesprochen die sogenannte „historisch-kritische“ Methode angewandt, die als Kind der Aufklärung im 17. Jahrhundert entwickelt wurde. Sie macht Ernst mit der Erkenntnis, dass die biblischen Schriften nicht vom Himmel gefallen sind, sondern von Menschen geschrieben wurden. Diese Menschen haben ihre Glaubenszeugnisse in den Bildern und Wertvorstellungen ihrer Zeit aufgeschrieben. So findet sich darin zeitlos Gültiges wie auch zeitlich Bedingtes. Um beides voneinander zu unterscheiden, muss man schauen, „was Christum treibet“ (Martin Luther), also die einzelnen Aussagen vom Kern, von Jesus Christus her, deuten. Genau dies haben wir oben getan. Damit schliesst sich der Argumentationsbogen.

Die Auseinandersetzung geht also um Fragen der Hermeneutik, der richtigen Bibelauslegung. Darf die historisch-kritische Methode angewendet werden oder nicht? Ich kann verstehen (auch wenn ich einen solchen Standpunkt nicht teile), wenn jemand die historisch-kritische Auslegung aus Überzeugung ablehnt. Allerdings erwarte ich dann, dass diese Ablehnung konsequent durchgehalten wird. Das aber ist nur selten der Fall. Besonders interessant ist es, wenn Frauen sich ablehnend zur Homosexualität äussern; denn sie müssten ja nach 1. Kor 14,34+35 ihren Mund halten. In Wirklichkeit wird auch in christlich konservativen Kreisen die historisch-kritische Methode angewandt. Aber selektiv. In Bezug auf Homosexualität heisst es dann: ‚Na, das ist doch etwas anderes!’ Warum eigentlich? Hermeneutisch jedenfalls nicht. Diese Inkonsequenz in der Anwendung der historisch-kritischen Methode zeigt lediglich, dass bei der Ablehnung der Homosexualität gesellschaftliche Vorurteile und gefühlsmässige Widerstände mit sauberer Bibelauslegung vermischt werden.

Mir war es wichtig, bei der Beantwortung der gestellten Frage wirklich tief in die Argumentation einzusteigen. Nichts wäre schlimmer, als wenn die Zulassung der Homosexualität in unseren Kirchen als blosses „Laisser-faire“ oder als willkürlicher Umgang mit der Heiligen Schrift gebrandmarkt werden könnte. Im Gegenteil: Wir sind es, die die Bibel schlüssig und konsequent auslegen! Deshalb: Mut zur Liebe, auch zwischen Frau und Frau oder Mann und Mann!

Propst Dr. Horst Gorski, Hamburg

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